Die Zahnbürste & Wladiwostok
Mai 2021 – der Wonnemonat. Da es mir ob eines Gewitters grad den Online-Bereich gekappt hat, nehme ich mir gern einmal wieder die Zeit, eine kleine Ode an eben diese Zeit zu schreiben. Einfach so - offline :-)
Kleines Gepäck – die Erste:
Es muss so um 1982 gewesen sein. Ich war noch ein Jungspund in der Ausbildung der Polizei Hamburg und die Welt damals war ein Imperium, was es noch zu entdecken gab. Mein damaliger und heute noch bester Freund sagte im Unterricht nur: Spanien?
Gut 48 Stunden später saßen wir auf dem Bock mit unseren damaligen Mädels. Jedes Motorrad war mit 2 kleinen Sporttaschen + einem Tankrucksack gesattelt. Kurz noch eine rauchen und ab ging die wilde Fahrt. Hamburg-Stellingen nach Torremolinos (P. Malaga) in gut 27 Stunden ohne Schlaf.
Ich weiß es deshalb noch so genau, weil kurz hinter Barcelona am Hinterrad meines Kumpels große rollende Käse rauskamen und ich ausweichen musste. Kurz gesagt – wir haben auf einem Rastplatz etwas Nickerchen machen müssen. Sonst hätten zumindest ich + meine dann wenig später erste Ehegattin diese Fahrt nicht überlebt.
Kleines Gepäck – die Zweite:
Die Jahre vergingen wie im Flug. Alles änderte sich – wirklich alles. Mein gesamtes Leben wurde einmal in den Schleudergang geworfen. Mit extra Spülen und dann nass aufhängen. Nur die Affinität zum Motorrad und die Liebe zu meinem Freund hatten sich nie verändert.
Gut 30 Jahre später saß ich mit meinem Kumpel in Ratzeburg an der Eisdiele. Ein sehr beliebter Moped-Treff in Schleswig-Holstein. Eine einzige Einfahrtsstraße führt zu diesem Eis-Pavillon. Gesäumt von großen Rasenflächen, auf denen alle Biker saßen, war es (und ist es heute noch!) Stunde um Stunde ein Schaulaufen der Maschinen und Fahrer, die diesen Biker-Treff besuchten. Vollgas, Wheelies, Stoppies. Lautes Gebrülle der Motoren und möglichst galant die Karre parken. Gelächter, wenn sich einer beim persönlichen Stunt auf die Fresse gepackt hatte. Offen ausgesprochenes Staunen über richtig fette Bikes und ohne Ende Benzingeflüster. Diese/meine Welt war in diesen Minuten, Stunden oder Wochen damals wieder völlig intakt.
Dann kamen zwei große und alte BMW´s langsam tuckernd die Straße runter. Vollverkleidung, Top-Case und Tankrucksack. Nichts, was uns Superbike-Fahrer in Kontagan-Haltung mit weit über 150PS unterm Arsch wirklich aufblicken lassen würde. Wäre da nicht diese erschütternde Volksmusik aus blechernen Lautsprechern der Führungs-BMW gewesen. Der Typ, der diese monströse Kiste sauber und minutiös einparkte, hatte einen violetten Lederdress an. Schreiend LILA – inkl. Helm und Stiefeln. Er stellte die Karre gekonnt ab (auch das will gelernt sein!), zog zunächst den Reißverschluss seines Lederkombis bis zum Schritt auf und nahm dann, fast lasziv langsam, den Helm ab.
Ich kann es nicht beschönigen: wettergegerbtes braunes Gesicht, ein ZZ-Top Bart der ersten Liga und gute 80 Jahre alt --- wenn nicht älter. Ebenso gekonnt stellte sein Kumpel seine BMW ab. Dieser in einem reinen weißen Leder-Outfit. Vom Helm bis zur Sohle!
Was soll schon passieren
Natürlich (was sonst) war ich neugierig. Die beiden Großväter setzen sich, nach dem Abholen des hier in Ratzeburg obligatorischen Eisbechers, etwas abseits der Knieschleifer-Fraktion auf den Rasen und schauten über den Rand des Bechers frech und interessiert in die Runde.
Mit meinem Kumpel, der seit Minuten den Mund nicht mehr zubekam, ging ich zu den beiden Opas rüber. Es entspann sich ein munteres Gespräch. Beide waren, nach Reisen über alle Weltmeere, nun Kapitän zur See a.D. Nun waren die beiden auf dem Weg von Hamburg nach Wladiwostok. Etwas über 11.000 km mit nur einem Tankrucksack und einem Top-Case. In jede Sporttasche passt mehr rein??
Natürlich fragte ich nach und der alte Mann, der in violett, gab mir eine Antwort, die ich bis heute in meinem Herzen führe: „Jungchen – was soll denn passieren? Wenn ich nen neuen Schlüpper oder ne Zahnbürste brauche; die gibt es auch im tiefsten Russland. Also kleines Gepäck, weil ich mir alles weitere durch die Jahrzehnte meiner Arbeit leisten kann. Und wenn ich auf dem Bock sterbe. Was solls? Ich habe alles gesehen – nur diese Route über Land noch nicht!“
Tenor der Geschichte:
Ich persönlich bin in 2019 letztmalig mit dem Motorrad noch einmal auf große Fahrt gegangen. Aber auch da hatte ich mehr dabei, als die beiden Kapitäne aus 2012 zusammen. Letztendlich bin ich aber heute in der Lage – und vor allem Willens – das Streben nach Vollkommenheit und Perfektion langsam aber sicher an den Nagel zu hängen. Selbst der härteste Spinner muss irgendwann einsehen: Genug ist genug!
Und da ich mich heute endlich mit Gedanken über Ausstieg, Abbruch und ein neues Leben ohne Sorgen kümmern kann, kommen in regelmäßigen Abständen diese beiden Herren in Violett und Weiß wieder in meinen Orbit.
Was soll´s? Ne Zahnbürste gibt es auch im tiefsten Russland :-)