Buch: Wie weit willst Du gehen
Chapter: 4.2
Edit: Weihnachten
Song: Karat – Über sieben Brücken
**************
Winter 1969/70. Ich erinnere mich noch sehr gut. Nicht nur und einzig an die hohen Schneewehen oder ausgefallenen Züge. Oder gar unseren fast magischen Ford 17M, der in der Garage stehen bleiben musste, weil der Schnee so hoch war, dass das Garagentor nicht mehr sichtbar war.
Nein. Ich erinnere mich vor allem an die Unbekümmertheit bei uns auf dem Dorf und in der Kreisstadt nebenan. Schnee war im Norden von Schleswig-Holstein nun wirklich keine Seltenheit. Hier heißt es entweder Regen, Schnee oder ne steife Brise mit Orkan-Tendenz. Meist hieß es einfach nur: Dat gifft keen slecht Wedder. Aber so viel Schnee. Das war schon etwas Besonderes.
Genervt war naturgemäß nur meine Mutter. Die selbsternannte Königin von Saba. Sie konnte nicht in den Laden. Sie konnte nicht verkaufen, keine Kunden bedienen und damit keinen Umsatz machen. Sie konnte noch nicht einmal die Feuerwehr oder das städtische THW dazu bewegen, ihr einen freien Weg zum Laden zu ermöglichen. Und weiß Gott – Sie hat es versucht und jeden drangsaliert, der nicht bei Drei auf dem Baum war. Immerhin waren es nur noch wenige Tage bis Heiligabend. Aber selbst meine Mutter musste irgendwann einsehen, dass es Hindernisse gibt, die man nur umschiffen kann. Ergo ergab Sie sich in ihrer Not in ein verfrühtes Weihnachtsfest und gab (wie immer) ihr Bestes.
Eingeschneit
Wir Kinder haben die Gefahr solch einer Situation natürlich weder gesehen noch begriffen. Wir wurden mit Blechkannen und Rucksäcken zu den umliegenden Bauern geschickt, um Milch zu holen. Frische Kuhmilch. Nix mit pasteurisiert. Meist durften wir sogar selber melken. Sich dann gegenseitig mit der Milch aus dem Euter zu beschießen war Usus. Oder einfach nur den Mund aufmachen und dein Gegenüber an den anderen zwei Zitzen zielt dir die warme Brühe direkt in den Mund. Was für ein Spaß. Und das unter der Aufsicht und dem Lachen des Bauern. Vor dem wir alle „Schiss-inne-Buchse“ hatten, weil er uns im Sommer immer mit der Peitsche von seinen Feldern jagte. Zuckerrüben klauen und dann mit dem Jagdmesser geschnitten pur am Feld verspeisen. Einfach herrlich. Auch zu den Hennen in den Stall durften wir. Eier klauen --- ganz offiziell. Oder Kartoffeln, oder Steckrüben. Manche Bauern hatten sogar noch Rhabarber und Zwiebeln. Manche sogar Salat Und fast jeder Bauer schlachtete in dieser Zeit noch selbst.
Teilweise waren wir in einem Tross von 6-8 Kindern unterwegs. Eingemummelt wie die Schneehasen und alle mit der gleichen Mission und den gleichen Liedern auf den Lippen. Futter für die Familie jagen. Nun gut. Das Jagen entsprang unserer Fantasie. Aber wir waren auch echt unterwegs in dieser Schneehölle. Für 20min im Sommer brauchten wir nun schon gute 2-3 Stunden. Und mit einer vollen 5Liter Blechkanne warmer Milch bewaffnet durch die Schneewehen zu stapfen. Da braucht es unbedingt ein Feindbild. Für alle Beteiligten. Was mir damals schon auffiel, weil ich ja im Laden meiner Mutter des Öfteren als Schneeweißchen an der Kasse stand, war der Umstand, dass keiner der Bauern je Geld von uns Kids haben wollte. Unser „Einkauf“ wurde gezählt und auf einen Zettel geschrieben. Das wars.
Sehr viel später wurde ich aufgeklärt. In unserem Dorfladen und von dessen Besitzer. Dem Bürgermeister unserer damalig knapp 1300 Seelen Gemeinschaft. Er führte Buch und mein Vater war sein Buchhalter. Jeder Bauer gab seine Zettel mit dem Namen der Kinder, die bei ihm „jagten“, in diesem Dorfladen ab. Der Bürgermeister heftete die nach Namen in eine Kladde und 1x die Woche kamen die Eltern vorbei, um ihre Schulden zu begleichen. Geniales System. Jede Familie gab bei Bezahlen etwas mehr als gefordert wurde. So konnten auch finanzschwache Familien unterstützt werden. Zudem wurde ich darüber aufgeklärt, was es heißt, wenn den Kühen die Euter nicht geleert werden. Und seit damals weiß ich auch, wie es sich anhört. Und diese Schmerzensschreie höre ich seit 2020 immer mal wieder. Aber das ist ein anderes Thema.
Gemeinschaft
Wie oft sind wir mit unseren Eltern zum Bauern oder zu den Nachbarn gegangen, um einfach nur zu helfen. Das Dach der Scheune ist unter der Schneelast eingebrochen. Tiere mussten rausgebracht werden und irgendwo anders unterkommen. Schwangere mussten irgendwie ins Krankenhaus oder die Hebamme ins Dorf gebracht werden. Defekte Heizung und es brannte plötzlich. Es gab in dieser Dorfgemeinschaft einfach alles. Dachdecker, Klempner, Feuerwehr, Sanitäter. Menschen, die Kleidung und Schuhe machen oder ausbessern konnten. Andere Menschen, die sich mit Technik und Elektrizität auskannten. Wieder andere, die Versorgung planen und Notstände vorhersehen konnten. Es gab echte Tiere von Männern, die pausenlos irgendetwas schufteten und gleichsam ein Heer von Menschen, die diese mit allem Notwendigen versorgten.
Mit ist durchaus bewusst, dass eine 50 Jahre alte Erinnerung in Omni-Color natürlich um einiges besser aussieht, als es eventuell tatsächlich der Fall war. Aber ich liebe diese Erinnerung. Ich liebe diese Gemeinschaft und ich liebe heute noch diese Erfahrung. Eine Gemeinschaft, die sich selbst in jedweder Lage geholfen hat. Wo keine Regularien gegeben waren. Der reine Menschenverstand und die unbedingte Fürsorge für die Schwächsten des Kollektivs gaben die Marschrichtung vor. Der Bürgermeister saß in seinem Dorfladen und koordinierte alles. Teilweise noch per Sprechfunk mit diesem komischen Dödel vor dem Mund.
Heute sicherlich purer Nonsens. Aber wir haben damals weder einen verloren noch jemanden hängen lassen. Wer kann das heute noch mit stolzer Brust und Inbrunst sagen! Das es immer noch geht, hat die Tragödie im Ahrtal deutlich gezeigt. Aber muss es immer gleich eine Naturkatastrophe sein, um aus der Hüfte zu kommen? Die Tafel nebenan, christliche Gemeinschaften, Altenpflege, Diakonie, Bahnhofsmission oder einfach nur der kleine Verein vor unserer Tür. Not ist allgegenwärtig und Zupacken die Devise.
Fröhliche Weihnachten!