Spirulina
Heute, 03.01.2020, hatte ich beiläufig einen Bericht im Frühstücks-Fernsehen verfolgt. Es ging um die Zukunft des Nahrungsaufbaus aus Algen und damit der Extrahierung von hochwertigem Protein. Es machte „ding“ zur nächsten Runde, weil im Bruchteil von Sekunden Erinnerungen in meinem Hirn aufploppten …
Rückblende
Ende der 80´ stieg ich äußerst unsanft vom Motorrad ab. Diesem Teil des Lebens widme ich sicherlich noch ein ganzes Kapitel. Hier sei nur gesagt, dass damit mein zweites Leben begann. Nach vielen Operationen, unsäglichen Ansagen der Götter in Weiß, was meinen weiteren Werdegang (eher Werde-Sitz) betraf, nahm ich Kurs auf die Reha-Klinik Damp 2000 an der Ostsee.
Sicherlich weiß der eine oder andere aus bitterer Erfahrung, wie öde es ist, wenn die Bettpfanne und die Nachtschwester die einzigen Lichtblicke des Tages sind. Es war – zwischen den Anwendungen – ultra langweilig und mit dem Rolli zum Strand und zurück war auch nicht jeden Tag möglich. Da stand eines Morgens ein Schild mit einem Richtungspfeil im Foyer der Klinik: Seminar zum Fitness-Studioleiter. Sport war schon immer mein Leben. Das guck ich mir mal an!
Frottee und Kampfstiefel
Natürlich durfte ich da eigentlich nicht rein. Die Teilnehmer, alles Hünen von Kerlen aus der Bodybuilder-Zunft, hatten vorab für diese Ausbildung bezahlt und ich stand naturgemäß nicht auf der Liste. Ein kleiner, drahtiger, älterer Mann (durchaus in meinem heutigen Alter) baute sich vor mir auf. War ja nicht schwer – ich saß ja. „Was Du hier wolle“ kam durch seinen italienischen Akzent durchaus lustig aus seinem Mund. „Lernen!“. Mir viel atok nichts besseres ein. Und der Kerl schob mich prompt und wortlos in den Seminar-Raum.
Ich saß etwas abseits rechts außen und hatte einen guten Blick. Auf die Bühne wie auch die Szenerie im Raum. Falls jemand jetzt ein Klischee + Bild eines Bodybuilders Ende der 80`Jahre vor Augen hat. Hier wurde alles übertroffen. Frottee-Handtücher am Hals weit ausgeschnitten, damit der Stiernacken nicht übersehen wird. Bis zum Rand gefüllte Tupperdosen mit Huhn und Reis ruhten auf den voluminösen Oberschenkeln. Diese Prachtkeulen waren in schreiend bunte Body-Pants eingehüllt und am Ende waren entweder halboffene Boxer- oder Springerstiefel in undenkbaren Farbvariationen. Nur zum Verständnis: ich mache mich hier nicht lustig. Gut 2 Jahre später war ich auch hier ein Teil der Geschichte des Bodybuildings. Und ich habe, im Laufe der Zeit, den Vorteil von geöffneten Springerstiefeln bei einer tiefen Kniebeuge mit 230kg auf dem Nacken durchaus verstanden …!
10kg Stahl
Der ältere Kerl, der mich in den Raum geschoben hatte, hieß Vincenzo Materia. Kurz Enzo. Sizilianer wie er im Buche steht. Er trat auf die Bühne und eröffnete, nach kurzer Einleitung, sein Seminar mit den Worten: „Neben mir hat Arnold Schwarzenegger schon immer blass ausgesehen!“
Ruhe im Raum – völlige Stille. Kein Gelächter oder Gegrunze. Nichts. Ich starrte gebannt auf die Szenerie. Klar kannte ich den Namen Schwarzenegger und auch das Training mit Gewichten war mir durch den Leistungssport durchaus nicht fremd. Später erst begriff ich, dass diese Aussage in der Szene praktisch Blasphemie bedeutete. Ähnlich einem Papst, der sich über oder auch nur neben Gott stellt. Gemurre, Geraune. Wenig später wurden Stifte und Blöcke gen Bühne geworfen und gepöbelt. Stühle kippten um, weil einige voluminöse Teilnehmer den Raum verließen.
Enzo stand da oben. Völlig teilnahmslos. Aufrecht. Er sagte nichts. Als wieder Ruhe einkehrte, deutete er mit der Hand auf ein Rack mit unzähligen Langhantel. Hanteln aus Stahl – jede „nur“ 10kg. Er machte eine Folge von 6 Übungen im freien Raum vor (später von mir „Six-Pack-Training“ getauft). Die noch übrigen ca. 20 Probanden machten mit und es dauerte keine 10min, bis auch der letzte Vollblut-Bodybuilder entkräftet aufgab. Mit einer 10kg-Langhantel einem trainierten Bodybuilder das Blut aus den Adern holen. Das war Enzo Materia. Und er machte oben auf der Bühne munter und dabei redend weiter.
Anmerkung: Auf Grund einer Wette hat er diese Abfolge einmal 24 Stunden durchgezogen – und es ging „nur“ um ein gebratenes halbes Hähnchen. Und er hat gewonnen!
Die Gazelle
Viele Monate später durfte ich bei Enzo ein „Praktikum“ (inkl. Kost & Logie) über 6 Monate absolvieren. In Hannover. Im Olympia-Stützpunkt und seiner Materia-Welt. Ich habe gelitten wie noch nie. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt und ich war fernab von Gut und Böse. Ich war einfach nur fertig - durchgehend.
Anatomie, Lehre der Knochen, Lehre der Muskeln, Physiologie und Psychologie. Hebelwege und Physik und zu allem Überdruss noch das enthaltsame Leben des Buddhismus. Beim China-Mann um die Ecke war die vegetarische Fastenplatte das Non-Plus-Ultra, um einen müden Krieger wieder auf Trab zu bekommen. Wenn´s ganz schlimm war, half auch ein Averna weit nach 22:00h.
Die mieseste Waffe von allen war allerdings: Warmes Malzbier mir Spirulina. Der Geruch von verdorbenem Fischroggen gemixt mit Malz. Sprudelnd und durch die Wärme in der Konsistenz, dass Du das Zeug noch nicht einmal auf Ex kippen konntest. Das war der Plopp am heutigen Morgen!
Diese sechs Monate mit einem Urviech an Energie, Charisma, Wissen, ultimativer Forderung und einem schier unbändigen Eifer, einem damaligen Troll wie #MeinerEiner etwas beibringen zu wollen, waren der Beginn meines dritten Lebens als über den Maßen erfolgreicher Privattrainer – der Bodybutler. Mehr dazu sicherlich später. Was aber über allem schwebt ist dieser eine Satz von Enzo:
„Kann ich nicht machen aus dickes Schwein Gazelle – kann ich nur machen dünnes Schwein!“
Tenor
Ich weiß leider nicht, ob er noch lebt. Telefonisch nicht erreichbar. Seine website ist nicht wirklich up to date und sein letzter facebook-Eintrag stammt aus Okt. 2017.
Enzo: falls Du mich auf deiner mailbox endlich mal hörst und oder das hier liest. Dein Spirulina war völlig für den Arsch. Dein Geist und deine Power haben mir das dritte – wirklich goldene Leben – ermöglicht. Und wenn Du schon oben bist – halt mir einen Platz bereit. Wir rocken das irgendwann. I promise ...
Danke für alles. Dein bodybutler