Sarah

Buch: Wie weit willst Du gehen

Edit: Chapter 2

Song: Reinhardt May: Über den Wolken

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    Heute Morgen bin ich mal wieder einfach so durch unsere kleine Vorstadt geschlendert. Hier und da stehengeblieben und das getan, was ich eigentlich am liebsten mache: Menschen beobachten. Es bringt mich in stressigen Zeiten runter. Es erdet mich ungemein.

    Mit einen Kaffee ToGo (im veganen Becher aus Reis-Dingens-Irgendwas) stehe ich entspannt an einen Zaun gelehnt und machte mir eine Zippe an. Sarah schaukelte um die Ecke. Wie seit Jahren in der gleichen abgetragenen Kleidung in offenen Sandalen. Mit immer dem gleichen schlaffen Rucksack auf den Schultern. Seit dieses Fleckchen Erde nun seit gut 7 Jahren mein angestammtes Habitat ist, kenne ich Sarah. Kennen ist zu hoch gegriffen, da ich außer dem Namen nichts von Sarah weiß. Das Alter dieser Frau ist schwer zu schätzen. Irgendwo zwischen 25 und 45 Lebensjahren wird sie haben. Sie lebt in einem der vielen Caritas-Häuser in meinem Veddel. Den Namen weiß ich auch nur, weil Sarah eines Tages im Winter mal sehr spärlich bekleidet vor den Lebenshelfern der Caritas quer durch die Fußgängerzone geflüchtet ist.

Hast Du …

    Wie immer schlug Sarah zielgerichtet den Weg in meine Richtung ein. Nicht, dass sie mich kennen würde. Aber sie sah, dass ich eine Zigarette rauchte. Und jeder der raucht oder lebt, ist für sie ein potentielles Ziel: „Hast Du eine Zigarette für mich?“ Ich verneinte wortlos mit einem Kopfschütteln. Da ich dieses Trauerspiel mit Sarah schon zig Mal durchspielen musste, blieben auch diesmal meine Augen fest auf ihr Gesicht gerichtet. Sarah kann niemanden direkt ansehen. Sarah guckt immer zu Boden. Dem zur Folge konnte sie auch mein erstes Kopfschütteln nicht bemerken. Die Antwort ist Sarah aber auch egal. Wie immer kam als zweiter Satz: „Hast Du etwas Kleingeld für mich!“ Und dann guckt Sarah hoch – immer erst nach dem zweiten Satz. Ich schüttelte wieder wortlos den Kopf und Sarah trollte sich emotionslos. Ein paar Meter weiter hatte sie bei einem jungen Mann mehr Glück.

    Es ist nicht so, dass ich etwas gegen Bettler hätte. Ganz im Gegenteil. Meine viel zu langen Jahre als Bulle in Hamburg, meine eigenen Lebensumstände bis hin zur Obdachlosigkeit, haben ein festes Bild in mir geprägt. In jedem Kollektiv gibt es gute und schlechte Menschen. In der Gemeinschaft der Mittellosen, der Ausgestoßenen und gemeinhin als Versager titulierten Menschen aber weit mehr Gute als Schlechte. Evtl. mag es daran liegen, dass jemand, der wenig bis nichts hat (seien es nun materielle Güter und/oder Bildung) auch nur ganz wenig verlieren kann. Dieser immerwährende Kampf um >>mein Haus, mein Pferd, mein Auto<< findet hier nicht statt. Hier geht es – aus unserem Blickwinkel – nur um Kleinigkeiten, welche jedoch einige Menschen schon mehr als nur glücklich machen.

Eine Herzensangelegenheit

    Warum ich, wenn ich doch ein Herz für diese Menschen habe, Sarah so rüde abwimmle? Das ist einfach erklärt. Sarah ist nur eine von vielen. Eine von einer Gruppe, die im Laufe meiner Jahre auf Erden immer größer geworden ist. Wo sollte ich anfangen und wo aufhören? Schräg gegenüber beim Kodi steht ein älterer Mann in ausgeblichener Armee-Kleidung und bietet die Hinz&Kunz (Obdachlosen-Zeitung) feil. Wenige Meter weiter sucht eine alte Frau die Mülleimer nach Flaschen und Dosen ab. In das hier in meinem Veddel, wo der Quadratmeterpreis für Wohnraum bei über 500 Euro liegt. Und trotzdem spielen sich hier tagtäglich diese Schauspiele ab. Natürlich stimmt es mich nachdenklich und natürlich initiiere ich jedes Jahr wieder aufs Neue Spendenaufrufe für die Ärmsten der Armen. Ich bin gut darin und mache es mit Herzblut. Aber wie schon mein Vater sagte: „Du kannst nicht jedem helfen. Und wenn Du einem hilfst, musst Du allen helfen!“ Wenn ich Sarah etwas geben würde, müsste ich auch zum Kodi rübergehen und danach der Dame beim Flaschensammeln helfen. Wenn ich einen Hund rette, müsste ich alle retten … Ein Perpetuum Mobile, wie es im Buche steht.

Zeitsprung:

    Und noch einmal hinten anstellen. Weil der Zucker so toll ist. Kurz nach der Einschulung kamen die Piekser in meine Grundschule. Bis heute kann ich mich nicht erinnern, ob es für Pocken, Masern, die Schluckimpfung oder alles war. Ich weiß nur, dass es zwei Tüten Ahoi-Brause gab. Dieses Britzeln auf der Zunge. Ich denke so ziemlich jeder aus meinem Jahrgang weiß, wovon ich spreche. Egal, was die von mir wollten. Ich stellte mich immer mehrfach an.

    Nicht erwischt werden war ziemlich einfach. Es waren immer mehrere von diesen Pieksern an verschiedenen Tischen anwesend und ich hatte schon in der Grundschule ein respektables Netzwerk. Falls mal eine Lehrerin fragte: „Du warst doch schon dran?“, haben immer der oder die hinter oder vor mir „Nein – der steht schon immer mit mir hier!“ gebrüllt. Dafür gab es dann eine der Ahoi-Tüten für den schnellsten Brüller von mir ab. Ganz klare Win:Win Situation. Schon damals.

    Wenig später wurde ich dann verschickt. Für die, die es nicht kennen: gemeint sind fast immer Ferienlager, in denen auf die kleinen Racker aufgepasst wird, weil die Eltern entweder keine Zeit für einen gemeinsamen Urlaub haben. Oder schlicht kein Geld. Ich habe es geliebt. Ich wollte vom ersten Tag an sich nicht mehr weg. Heimweh? Was ist das? Hier gab es alles. Bullerbü, Peter Pan, Robin Hood und Legoland in einem. Immer war was los. Sportarten, die ich noch nicht kannte, wurden hier spielerisch erschlossen. Versuche heute, in 2021, mal einen Knirps zum Bogenschießen anzumelden. Nee – nicht die Dinger mit der Gummispitze. Echte Pfeile! Oder Floßbauen und nach getaner Arbeit wirklich mit dem Ding in See stechen. 2-5x absaufen und am nächsten Tag weiterbasteln. Heute undenkbar. So eine Fakultät würde sofort geschlossen werden.

    Seifenrennen völlig ohne Helm oder sonstige Schutzkleidung. Lagerfeuer mitten im Quartier (die Häuser waren oben offen für den Rauchabzug). Fußball auf dem Hof – barfuss. Basteln mit Messern und Stichwerkzeugen aller Art ohne entsprechende Arbeitskleidung. Auf Bäume klettern ohne Sicherungsseil. Oder Sternwarte spielen. Das waren Nachtwanderungen ohne Ansage. Plötzlich war der Himmel klar und wir wurden mitten in der Nacht aus den Betten getrieben. Bekamen alle eine Funzel in die Hand und dann ging es in den Wald. Und irgendwo auf einer Lichtung legten wir uns alle im Kreis auf den Rücken und unser Führer (darf man das sagen?) erklärte uns die Sternenbilder. Natürlich war dann einige hundert Meter weiter auf der nächsten Lichtung schon ein Zelt aufgebaut und wir durften in einen Schlafsack schlüpfen. Was für ein Spaß. Völlig ohne Zähneputzen und Nachgebet. Aber mit einer Einschlafgeschichte, die einer unserer „Bewacher“ vorlas.

    Was für eine grandiose Kindheit. Raum und Zeit, um sich selbst zu erfinden. Jeden Tag aufs Neue. Jeder Tag war anders. Es gab keine Probleme. Es gab (so wie heute!) nur Herausforderungen. Es gab auch keinen, der zurückblieb. Inklusion gab es noch nicht. Mitnehmen und Aufpassen auf jeden Anderen haben wir völlig natürlich vermittelt bekommen. Ohne Druck. Aber mit jeder Menge Spaß und Freiraum zur Entwicklung.

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    Heute stehe ich an diesem Zaun, drücke meine Zigarette aus und denke an Sarah. Wie war wohl ihre Kindheit. Oder die vom Kodi-Mann. Oder der alten Dame, die in einem verdreckten Mülleimern nach Flaschen sucht. Die Zeit, die uns für ein Leben, dieses EINE Leben, prägt.

    Uns auf das vorbereiten soll, was einfach so ungebremst kommen kann --- und kommen wird!