RAL 9005

Hellbraun ist die Flüssigkeit in meinem Glas. Ein kurzes, kleines Whiskyglas. Wenn ich irgendwo an einer Bar sitze, nehme ich auch gern diese Gläser mit Stiel. Die wie ein erhöhter Cognac-Schwenker aussehen. Ist mir in meiner persönlichen Umgegend zu viel Firlefanz. Ein Steak, medium, bleibt ein Medium-Steak. Ganz gleich, auf welchem Teller serviert. Die Zeit, die Außentemperatur oder aber der jeweilige Gesprächspartner können und werden am idealen Punkt dieses Steaks etwas ändern. Das liegt allerdings nicht am Steak. Nur an den Umständen. Es war, irgendwann einmal, perfekt. Ebenso wie jetzt mein Whisky. Bernsteinfarben. Smooth. Leicht torfig. Rau im Mund. Leicht im Abgang. Der Rauch meiner Zigarre nebelt über den Tisch.

Weniges in meinem Leben ist so klar umrissen wie ein perfektes Steak oder ein guter Whisky. Geht oder geht nicht - das ist hier, wie so oft, meine Devise. Schwarz ist immer schwarz. Sicherlich gibt es Hunderte von Schattierungen, von Grautönen. Aber es gibt nur dieses eine Schwarz. Farbton RAL 9005 = Tiefschwarz.  Nicht RAL 9003 oder 8022. Es gibt nur ein Schwarz. So, wie es nur ein Weiß gibt. Es gibt kein Licht ohne Schatten. Es gibt kein Leben ohne Tod. Und wenn es Gott geben sollte, wird es ebenso sicher eine Kraft auf der Gegenseite geben. Ebenso klar definiert ist der Tod eines Menschen. Nicht der Tod als solches, sondern der Zeitpunkt, die Sekunde seines Todes. Nicht der zur Unkenntlichkeit verbrannte Penner in typischer Fechter-Stellung. Nicht die vielen alten Menschen, die einsam und allein in ihrer Wohnung verreckt sind. Was nur auffällt, wenn der typische Gestank durch das Treppenhaus wabert. Nicht die völlig zerfetzten Unfalltoten und auch nicht die zerplatzten Leiber, die sich irgendwo vom Hochhaus geworfen haben. Das Leben ist hier schon lange weg. An seine Stelle sind Tristesse, Blut und Fragen getreten.

Was ich meine, ist das Brechen der Iris. Diese Nanosekunde zwischen Tod und Leben. Dieses letzte Einatmen ohne Ausatmen. Oder eben umgekehrt. Alles nach diesem kurzen Moment eines Wimpernschlags ist vollkommen anders. Es ist auch völlig egal, ob du das Tier oder den Menschen  kennst, der da vor dir stirbt. Es ist endgültig. Nicht revidierbar. Ein Augenblick, der ebenso faszinierend wie erschreckend ist. Einmal erlebt, lässt es dich nie wieder los. Ein Baby. Gerade einmal ein paar Monate alt, stirbt in deinen Armen. Verhungert. Die Mutter liegt drei Meter weiter. Völlig zugekifft. Ein Mann, unterwegs zur Arbeit. Wurde unter einem LKW eingeklemmt. Ich hatte meine rechte Hand als Faust tief in seiner Schulter. Wollte die Blutung stoppen. Sein Arm war weg. Einfach abgerissen. Er hatte keine Schmerzen. Sah durch mich durch und redete unentwegt über seine Tochter. Atmete ein letztes Mal aus und war tot. Das junge Mädchen. Vielleicht 17 Jahre. Gebrochenes Zungenbein nach versuchter Vergewaltigung. Krallte sich noch in meine Jacke. Und starb. Einfach so. Ein Leben endet. Am schlimmsten sind aber die Augen. Die vergisst man nie.

Als Kind hatten wir Blacky. Einen schwarzer Pudel. Hatte sich die Staupe eingefangen. War zum Sterben in die Feldmark hinter unserem Haus getürmt. Vater und ich suchten ihn. Irgendwann hörten wir sein Winseln. In einer kleinen Sandgrube hockte er. Vater kniete sich neben ihn. Streichelte ihm den Kopf. Ich saß vor Blacky und er leckte meine Hand. Mein Vater bewegte ruckartig seine Hände. Es machte hörbar Knack und Blacky zuckte noch einmal. Seine tiefschwarzen Augen änderten die Farbe in milchig grau. Er atmete nicht mehr. Nie wieder wollte ich etwas, was sterben kann, an meiner Seite.

Rudi war dann mein zweiter Hund. Eher zufällig war ich wieder auf den Hund gekommen. Blacky war nun schon fast drei Jahrzehnte tot. Geben wir dem Schicksal noch eine Chance dachte ich. Der kleine Sohn meiner damaligen Lebensgefährtin wollte einen Hund. Dass es an mir hängenbleiben würde, war mir mehr als klar. Wir fanden einen kleinen Welpen. Irgendwo in einer Auffangstation für verwahrloste Hunde. Rudi war so klein, dass ich ihn in einer Hand halten konnte, um ihn mit der anderen Hand im Waschbecken zu waschen. Er wurde schnell ein Jahr alt und war prächtig gewachsen. Konnte damals ja keiner wissen, dass dieses kleine Häufchen Hund ein Dobermann-Labrador-Mix war und entsprechend wachsen würde. Renitent, angriffslustig und sich seiner Größe völlig bewusst. Eine damalige Nachbarin fragte, ob ich noch einen Hund aufnehmen würde. Großspurig antwortete ich: „was solls – kostet die gleiche Zeit. Nur doppelt Futter. Wenn Rudi mit ihm klarkommt – kein Problem!“ Zwei Tage später spielte ich mit Rudi im Garten vor dem Haus. Ein Auto hielt und eine eher verwahrloste Frau stieg grußlos aus. Aus dem Kofferraum nahm sie eine Decke. Kam zum Zaun und hielt mir die Decke hin. Etwa so groß wie ein Küchenhandtuch. Ein kleiner, abgemagerter Welpe darin. Braun. Mit einem braunem und einem weißen Auge. Noch diese kleinen, fiesen Milchzähne, wie ich Sekunden später feststellte. Ich nahm das Handtuch an. Die Frau drehte sich wortlos um und stieg wieder in ihr Auto. Drehte und fuhr davon. Rudi schabte mit den Vorderpfoten an meinem Bein und grunzte: „Was hast du da --- was hast du da?“ schien er zu fragen. Sekt oder Selters? „Geht oder geht nicht“, dachte ich. Ich setzte das kleine braune Bündel auf den Rasen und harrte angespannt der Dinge. Rudi kam vorsichtig näher. Der kleine Hund nieste und schüttelte sich. Das kleine Vieh hatte null Angst. Keinen Respekt vor der stattlichen Größe, die Rudi nun schon hatte. Biss meinem Rudi als erstes in die Pfote. Wenige Minuten später legte sich Rudi auf die Seite und das kleine braune Hundevieh kuschelte sich in seine Pfotenbeuge. Härtetest mit Bravour bestanden. Hank habe ich ihn später getauft. Auf den Namen Walter hatte er nullkommagarnicht reagiert.

Rudi und Hank wurden das, was man best buddys nennt. Unzertrennlich. Hart im Nehmen und immer zwei Schritte vor allen anderen. Rudi schlank, drahtig, intelligent und schnell. Hank, ein Pitbull-Mix, eher breit, untersetzt, sehr kräftig und clever. Das perfekte Duo. Beide hörten nicht nur aufs Wort. Sie hörten auf Gesten. Nicht diesen Müll mit Springen durch brennende Reifen oder bleizerfetzte Gänse apportieren. Links, rechts, halt, zurück, sitz, Platz! Überall und jederzeit. Schussecht und wesensstark. Mehr brauchte es für mich nicht. Eine tolle Erfahrung. Eine wunderbare Zeit. Ich war stolz auf meine Gang. Irgendwann machte meine damalige Ehefrau einen Fehler. Ist egal, was es war und warum. Rudi und Hank rannten über die Straße. Rudi wurde im Lauf frontal von einem Golf erwischt. Lag auf der Seite im Rinnstein. Hank über ihm auf dem Bürgersteig. Er leckte ihm das Blut von der Schnauze und den Augen. Rudi starb in meinen Armen. Ich sah seine Iris brechen. Sein letztes Ausatmen, bevor seine breite Brust einfiel. Hank hat danach jedwede Nahrungsaufnahme verweigert. Lag immer nur im Flur der Wohnung. Mit dem Kopf zur Eingangstür. Ich musste ihn mit der Flasche künstlich ernähren. Musste dem Hund, mit Tränen in den Augen, die Pipette in den Hals rammen. Hank hat danach nie wieder mit anderen Hunden gespielt. Geschweige denn, sie auch nur annähernd begrüßt. Wenn es jemals einen traumatisierten, apathischen Hund gab, dann war das Hank. Überlebt hatte er in einem Müllcontainer mit sechs Welpen seines Schlags. Die Mutter war vor dem Container verhungert. Hank war einer von zwei Welpen, die überlebt hatten. Aber nun war alles Leben aus ihm gewichen. Gerade, als er wieder etwas Zuversicht und Spaß am Leben fand, machte sich der Krebs in seinem Körper breit. Alles, was ich an Kraft, Zeit und Geld aufbieten konnte, half nichts. Er war ein Kämpfer. Ein starkes, unerschrockenes Vieh. Konnte aber irgendwann, von einem Tag auf den anderen, die Hinterbeine nicht mehr bewegen. Schleppte sich trotzdem vorwärts. Ich höre noch heute seine Pfoten über den Asphalt schrammen. Ich ließ ihn gehen. Auch seinen Kopf hielt ich in den Armen, als seine Augen brachen. Sein fast weißes Auge färbte sich schwarz im Augenblick des Todes.

„Du weißt, dass das Leben endlich ist!“ Ich spreche es laut aus und schenke mir dabei noch einen Whisky nach. Das ist mir alles klar. Mehr wahrscheinlich, als vielen anderen in meiner Umgebung. Aber diese Endlichkeit kommt immer plötzlich. Sich über Monate von einem sterbenskranken Partner zu verabschieden, ist grausam. Vom unausweichlichen Ende her aber absehbar. Plötzlich vor einem Menschen oder gar Partner zu sitzen, der sein Leben aushaucht, dessen Aura du noch spürst, dessen Seele du fast greifen kannst und dessen Körper noch warm ist. Und dessen Iris bricht, ist schwarz.

Tiefschwarz. RAL 9005.