NIEMAND WIRD ES VERSTEHEN

Die Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofs surrt zu Feierabendzeiten wie ein aufgescheuchter Bienenstock. Auch zu Weihnachten. Ganz besonders dann. Quäkende Bahnhofsansagen verlieren sich im Singsang von Stimmen und Sprachen. Kaum zu unterscheiden, was woher kommt. Die alte Dame, die in Mülleimern nach Flaschen oder Dosen wühlt. Wirr stehen ihr die Haare vom Kopf, doch ist sie in Vollausstattung mit Taschenlampe, Gummihandschuhen und Teleskop-Griff bewaffnet. Der junge Mann am Kiosk. Großspurig gestikuliert er vor der Schar seiner Freunde. Den Blick auf die Jugendlichen gerichtet, die zu dröhnender Rap-Musik mitten in der Wandelhalle akrobatische Break-Dance-Tanzeinlagen zelebrieren. Auf wundersame Weise verschmelzen die harten Beats aus dem Ghetto-Blaster mit der Berieselung durch allbekannte Weihnachtslieder.

Zwei Polizeibeamte im Tandem-Dienst. Mehr mit ihrem Döner als mit ihrer Umgebung beschäftigt. Rastlose Geschäftsleute auf dem Weg zum nächsten Deal des Jahrhunderts. Hastende Pendler, die schnellstens Feierabend in ihren Vorstädten haben wollen. Shopping-Queens samt übel gelauntem, weil mit Einkaufstaschen vollgepacktem Anhang. Flanierende Touristen, Dealer, Taschendiebe, Straßenkünstler und Bettler. Eine verwirrende Szenerie, bei der man unwillkürlich darauf wartet, dass der Augenblick plötzlich einfriert. Nur, um auf diesem Bild etwas besser sehen zu können.

Das Spiel der letzten Lichtstrahlen, die noch durch das Dach der Stahlkonstruktion brechen. Einen Augenblick der Besinnung. Ein Lächeln. Zwei Freunde treffen sich im Menschengewirr. Eine Umarmung. Ein Reflex. Wenn das Bild nur einmal angehalten hätte, wäre er vielleicht sichtbar geworden. Dieser große, junge Mann. Sein ebenmäßiges Gesicht mit leicht gebräuntem Teint. Schwarze Haare und Bart, akkurat kurz frisiert. Die muskulöse Statur bedeckt vom dunklen Kaschmirmantel. Und auch den älteren Herrn, der ihm entgegenkommt. Ebenfalls geschmackvoll gekleidet. Mit einer schmalen, ledernen Aktentasche in der rechten Hand und einigen Zeitungen unterm linken Arm.

Ein paar Sequenzen weiter hätte man eventuell ahnen können, dass der junge den älteren Mann überschwänglich, jedoch nicht ohne gewisse Ehrerbietung begrüßt. In dieser Sekunde das ratlose Gesicht des Alten erhaschen und zeitgleich die unerbittliche Kälte im Bild spüren, die sich Bahn bricht. Mitten durch die leicht getönte Sonnenbrille des jungen Mannes. Nur den Bruchteil einer Sekunde später dieser kurze Lichtreflex, der auf der gebogenen Klinge eines kurzen Messers tanzt. Geführt von einer schmalen Hand im Lederhandschuh. Von einer drahtigen, schlanken Frau im schwarzen Trenchcoat mit schwarzem Kopftuch.

Da solche Szenarien jedoch nur dort einfrieren, wo es auch Überwachungskameras gibt, sank plötzlich, mitten im pulsierenden Menschen-Strom, ein älterer Herr aufs Pflaster am Ausgang der tiefer liegenden Unterführung von Wandelhalle zu Mönckebergstraße. Schnell bildete sich eine Blutlache. Unter seinen Beinen. Wurde größer und größer. Einige Menschen fielen, völlig in Gedanken, fast über den Mann. Einige hockten sich hin, im aussichtslosen Versuch gefangen, ihm irgendwie noch helfen zu können. Stimmengewirr. Geschrei. Hilferufe.

Der junge Mann im Kaschmirmantel wäre auf dem Standbild schon nicht mehr zu sehen gewesen. Er war, noch bevor der Alte wirklich begriff, dass er getroffen worden war, zügig, aber ohne Hast weitergegangen. Die Zeitschriften nun unter seinen Arm geklemmt. Er wusste, dass dem älteren Herrn noch maximal zwei Minuten Lebenszeit blieben.

Seine Stiefmutter hatte noch nie ein Ziel verfehlt und war schon, mit dem Aktenkoffer in der Hand, auf der anderen Seite der Wandelhalle im Menschen-Strom untergetaucht.

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