1998 – Foča – Bosnien/Herzegowina
Er erwachte langsam. Seine Augen mussten sich erst an die Helligkeit im Raum gewöhnen. Große Scheinwerfer erhellten den Raum. An den Handgelenken aufgehängt hing er inmitten dieses feuchten Kellers. Er sah voluminöse Rohre an der Decke langlaufen und eine große, rostig braun verfärbte Doppeltür am Ende des schmalen Raums. Mit dem Erwachen kamen sofort die Schmerzen zurück. Geballt. Wie eine Lawine rollten sie auf ihn zu. Erst in langsamen Schüben, dann immer schneller pochend. Ein Stakkato von immer höheren Wellen anstimmend.
Seine Handgelenke brannten, als wenn diese in glimmenden Glutringen festgeschnallt wären. Durch seine zuckenden Augenlieder sah er dünne Fäden Blut über seinen verschmutzten linken Arm laufen. In feinen Linien, jedoch abstrakt wie in einem Gemälde von Paul Klee. Seine Schultern fühlten sich tot an. Wahrscheinlich ausgekugelt durch das stundenlange Hängen an diesen Seilen.
Ein junger Mann kam auf ihn zu. Blaues Uniformhemd. Die Ärmel bis zum Ellbogen hochgeschoben. Eine qualmende Zigarette im Mundwinkel. Ansatzlos schlug er ihm mit dem Gewehrkolben in den Unterleib. Er wäre nach vorn geklappt, wenn er nicht hilflos im Raum hängen würde. Seine Füße berührten nur ansatzweise mit dem Ballen den dreckigen Boden. Gequälte Laute drangen durch seine zerfurchten Lippen. Ein Königreich für einen Schluck Wasser.
Dann spürte er plötzlich etwas Erleichterung. Die Seile, mit denen seine Arme nach oben gehalten wurden lockerten sich etwas. Er konnte sich, von Schmerz umwoben, endlich etwas nach vorn beugen. Seine Füße spürten den Boden. Seine Muskeln jedoch nicht wirklich. Im Augenwinkel sah er mehr Männer in blauen Hemden kommen. Vier. Vielleich sechs an der Zahl. Er spürte eine Klinge in Höhe seiner Leiste. Ein leises Surren. Dann fiel seine dicke Einsatzhose lautstark in die Pfütze unter ihm zu Boden. Ein neuer Schmerz in seiner Leiste machte sich breit. Wohl ein Messer, das zu tief gesetzt wurde, um ihn zeitgleich auch um seine Unterhose zu erleichtern.
Gleich darauf kräftige Arme, die ihn gebückt hielten und ein weiterer kolossaler Schmerz in seinem Anus, der alles andere sofort überdeckte. Er sah im Zwielicht noch einen jungen Franzosen auf einem Stuhl an der Kellerwand sitzen. Reste seiner Uniform hingen an ihm in Streifen herab. Vielleicht grad volljährig. Mit je einem großen Messer in den Oberschenkeln blickte dieser völlig apathisch in seine Richtung. Kurz erschien die bleiche Fresse seines Onkels Manfred mit den gelben Zähnen vor seinen geschlossenen Lidern. Dann wurde es wieder schwarz um ihn herum. Mehr als dankbar ließ sich Rainer erneut in diese Dunkelheit fallen …