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Warum wird man Polizist?

An den multiplen Aufstiegschancen und fortan horrend wachsendem Gehalt kann es nicht gelegen haben. Konkurrenzlos billige Krankenversorgung kommt einem mit knapp 18 Lebensjahren nun wirklich als Letztes in den Sinn. Retten, Helfen und Bergen hatte damit auch nicht das Geringste zu tun. Der Entschluss war von reichlich simplerer Natur geprägt. 289 D-Mark als Bundi im Dreck zu 1.300 D-Mark als Polizist in Uniform. Im ersten Jahr! Meine Mutter hat mir das 1x1 der Kalkulation von Kindesbeinen an mit der Brechstange eingeimpft. Also gab es rein rechnerisch nur eine Entscheidung. Ich muss hier irgendwie raus und werde Bulle …

Nun ist das „Polizist werden“ relativ einfach. Die Prüfungen in Sachen Allgemeinwissen, Deutsch, Sport und Gesundheit waren, zumindest Anfang der 80´er, ein Witz in Relation z. B. der „Freiwilligen Feuerwehr“. Ohne es beschönigen zu wollen. Anwesenheit und zumindest nicht farbenblind geradeaus gucken zu können hatten schon ausgereicht.

Wäre da nicht diese Unterscheidung zwischen Einstieg in den mittleren oder gehobenen Dienst gewesen. Für den mittleren Dienst reicht der Abschuss der Hauptschule. Dann waren es 3 Jahre Lehrzeit, die mit der Fachhochschulreife abgeschlossen werden mussten. Jahrende später, bei guter Führung und durchgehendem JA-Sagen, um die Dienstakte sauber zu halten, hätte man dann eine Prüfung für die gehobene Laufbahn ablegen können. Für den von vorn herein gehobenen Dienst musste es schon der Abschluss des Gymnasiums + möglichst eine Empfehlung sein. Dann wurden es nur 2,5 Jahre. In allerdings völlig anderen – halt gehobenen – Bahnen.

Rückblick

Schon mit dem Beginn der Schule tat sich mir eine Fähigkeit auf. Ich konnte diese damals nicht benennen. Sobald ich etwas gesehen oder gelesen hatte, war es da. Präsent. Quasi plastisch und zum Anfassen. Ich konnte praktisch aus meinem Kopf bei mir selbst abschreiben. Viel später lernte ich den Begriff dafür. Fotographisches Gedächtnis. Es ist heute immer noch so. Die Augen sind zwar schlechter – aber der Kopf arbeitet noch so wie damals. Heute weiß ich allerdings, dass es einfach nur eine Form von Hochbegabung war. Hat in den 60´ern keinen interessiert. Shit happens!

Die Schule war für mich nie ein Thema. Die eine oder andere Hänselei ob meiner Körpermaße steckte ich lächelnd weg. Ich war überall und immer ganz vorn dabei. Egal, ob Mannschaften per Entscheid ausgewählt wurden, ob es um den Klassensprecher oder die Schülerzeitung ging. Ich war immer erste Wahl. Warum? Ich kann das nicht erklären, da ich kaum einen anderen von damals fragen kann. Sicherlich lag es aber daran, dass das Leben damals – so ab 1968 – für mich ein einziger Freudenkeks war. Probleme gab es nicht. Und wenn, habe ich diese gelöst, bevor ich überhaupt gemerkt hatte, dass es ein Problem werden könnte. Ich schwamm durchgehend und über Jahre auf einer Woge der Euphorie. Nichts viel mir schwer. Nichts war für mich unmöglich und ich musste mich dafür noch nicht einmal strecken. Oder gar anstrengen. Es fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes in den Schoss.

Zorka

Natürlich kam ich dadurch anders rüber als der Rest meiner damaligen Mitstreiter, Gefolgschaft oder Kommilitonen. Ich nenne es mal Bekannte. Ich musste nie wirklich lernen. Schulaufgaben waren ohne Ausnahme immer in wenigen Minuten erledigt und dann ging ich auf die Straße in unserem Dorf. Ein langer Pfiff auf der Trillerpfeife und Schwupps trafen wir uns auf dem sogenannten „Dreiangel“ (ein Parkplatz mit drei Ausfahrten) zum Kicken bis zum Abendbrot oder zum eigentlichen Fussi-Training für die Auserwählten, die beim ABC-Wesseln mitmachen durften. Zudem war ich der „Sohn von Hutmüller“. Bei den Eltern in meinem Bekanntenkreis hatte ich keinen Namen. Ich war nur und einzig der Sohn meiner Dynastie. Der Sohn von Hutmüller. Mein Vater gab mir, schon als Kind eine Message auf den Weg: „Drei Regeln mein Sohn: deine Zensuren müssen stimmen – ich hole dich nie aus dem Knast – ich zahle keine Alimente!“ So einfach wie simpel. Mit gut 9 Jahren kann man da nicht viel falsch machen, wenn man, was man einmal gelesen oder gesehen hat, nicht wirklich lernen muss. Ich hatte also völlige Narrenfreiheit, welche ich in vollen Zügen genoss. So einem Überflieger laufen die Menschen nach. War damals so – ist noch heute so. Wo ich eintrat, ging das Licht an. Wo ich anwesend war, war Party angesagt. Was ich sagte, hatte zumindest Gewicht – wenn es nicht zum Gesetz wurde!

Das Erwachsenwerden konnte ich leider nicht aufhalten. Soweit reichten meine Superkräfte nicht. Heute den langsamen Verfall. Damals das langsame Erwachen der Pubertät. Dem Einhalt zu gebieten war weder ein Plan noch Fähigkeit gegeben. Die absolut genialste Braut in meiner Klasse war: Zorka. Überlegt einmal kurz und denkt in die Anfänge der 70´er. Wer kommt, im verschlafenen Dithmarschen, auf die unsinnige Idee, seine Tochter Zorka zu nennen? Computerspiele, geschweige denn Computer allgemein gab es noch nicht. Zorka war das Kind einer LSD-Bordsteinschwalbe und wurde von den Großeltern aufgezogen. In Gänze das fiese Pendant in weiblich zu meiner eher netten Persönlichkeit. Wild. Ungezähmt und unerbittlich. Nichts und niemanden lies diese Frau gelten und jeder, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, wurde bis auf ein Minimum an Lebenswillen erniedrigt. Es war klar und unausweichlich, dass wir die Klingen über Monate bis aufs Blut kreuzten. Und uns wenig später gegenseitig in einigen zaghaften Versuchen die Unschuld nahmen. Aber es wurde nie publik. Sie wie auch ich genossen unseren Helden-Status. Da wäre die Bekanntmachung von gegenseitigem Sekret-Austausch oder gar einer andauernden Beziehung semi-professionell gewesen. Wir waren beide gut 16 Jahre alt. Aber schon echte Profis in unserem Business.

Der Bringer

In dieser Zeit ereilte mich ein Nierenversagen. Immer nur im T-Shirt auf dem Mofa oder Moped kann zu so etwas führen. Sagte mein Haus- und Hofarzt Dr. Muri aus dem Kreiskrankenhaus Heide. Ich erwähne das hier extra, weil dieser Kerl von einem Arzt noch viel mit mir und meiner Dynastie im weiteren Verlauf zu tun hat. Ich sage nur „10er-Karte“! Ich musste halt daheimbleiben. Dick in Watte eingepackt. Vater über seiner Buchhaltung. Mutter bei der Arbeit. Die drei Schwarz-Weiß Programme der 70ér brachten mich auch nicht wirklich in Fahrt. Also Lesen. Viel lesen. Moby Dick hätten Sie etwas kürzer machen können. Tolle Story, aber 200 Seiten hätten echt gereicht. Tom Sayer war mein Held. Robin Hood sowieso und dann kam das Buch des Krieges. Das ist aber wieder eine ganz andere Geschichte. Einer meiner Freunde damals hieß Michael. Michael bracht mir die Schulaufgaben. Michael ist das, was man heute einen Mitläufer nennt. Michael war immer da. Hat immer applaudiert. Hatte nie Widerworte und findet alles, was du tust, ultra cool und genial. Michael wohnte Luftlinie 600m entfernt und es war keine Mühe für ihn, mir den Lernstoff zu bringen.

Einige Wochen später durfte ich wieder zur Schule und meine Klausuren für den Abschluss standen an. Nachschreiben wurde das genannt. 4 Klausuren an einem Tag. Allein mit einem Aushilfslehrer in einem Klassenraum. War nicht unbedingt prickelnd. Aber ich hatte ja gelernt - so what! Und ich hatte damals jede Klausur mit Auszeichnung … verkackt! Ich hatte keinen Plan, was die von mir wollten. Ich hatte doch gelernt. Schon weil mir in den vergangenen Wochen ultra langweilig war. Aber diese hier geforderten Themen in Mathe, Bio, Physik und Englisch kannte ich nicht. Nie gesehen. Keinen Plan? Bei der ersten dachte ich noch an einen Fehler meinerseits. Bei der zweiten kam mir schon so ein ungutes Gefühl. Beide Klausuren gab ich nach nur 20min Grübeln und Zetern ab. Die Dritte sah ich mir nur kurz an und gab diese zusammen mit der Vierten, nur mit meinem Namen gezeichnet, beim Bewacher ab.

Ich wartete nicht auf meine Noten. Ich wusste, was Sache war. Gleich nach Verlassen dieses gespenstigen Klassenzimmers war ich unterwegs. Michael stand unter einem Baum im Schulhof. Ein Teil meiner Klasse war bei ihm. Ich stürmte rücksichtslos durch die Ansammlung, krallte mir den Kerl und ballerte ihn mit aller Gewalt, die ich damals leisten konnte, an die Mauer unserer Turnhalle. Michael hatte eine schmale Statur und ich kam im Laufschritt mit guten 70kg Kampfgewicht auf ihn zu. Er prallte an die Wand und fing sofort mit Stammeln und Weinen an. Ich musste noch nicht einmal fragen. Er plärrte sofort los. Das mir doch immer alles zufallen würde. Das er neidisch sei. Dass er es mir mal zeigen wollte, wie es andern an der Schule erginge. Ich gab ihm eine schallende Ohrfeige und er sackte zusammen. Diese Ohrfeige würde mich noch teuer zu stehen kommen. Das war mir aber damals wie heute völlig egal. Auch eine der vielen Dinge, die ich in meinem Leben eindeutig falsch angegangen war. Die ich aber nie bereut und auch immer wieder genauso machen würde.

Zeitsprung

Gut 20 Jahre später trafen wir uns wieder. Bei einem dieser ominösen Klassentreffen, die in vielen Filmen den Stoff für allgemeines Ablachen bilden. Ich fühlte mich wieder wohl. Meine Polizeizeit lag lange hinter mir. Ich hatte ein aufstrebendes Unternehmen und gut zu tun. Es war wie damals oder immer. Auch dieses Landgasthaus in den Weiten der Dithmarscher Schweiz war mein Parkett. Wo ich war, war Licht und der Tisch war voll. Irgendwann kam Michael rein. Sah mich und zögerte. Ich stand sofort auf. Es war unverkennbar Michael. Einige hatten sich jeweils zum Positiven oder auch meist zum Negativem verändert. Er war einfach nur gealtert. Immer noch hager. Immer noch die Mundwinkel unten. Immer noch nur ein geducktes Lächeln, da es bei falschen Bewegungen oder gar Äußerungen ungemütlich werden könnte. Ich begrüßte Michael mit Handschlag und führt ihn zum Tisch. Er zog noch nicht einmal seinen dämlichen Bundeswehr-Parka aus. Saß da wie Karl-Heinz im Brunnenschacht und wartete anscheinend einfach nur auf die nächste Ohrfeige. Andere übernahmen das Gespräch und ich erfuhr, dass auch er den Polizeidienst gewählt hatte. Allerdings gleich die gehobene Laufbahn, da er nicht, wie ich, von der Schule geflogen war. Nun saß er zwischen Bergen von Akten in der Polizeidirektion Heide, im Betrugsdezernat. Ausgerechnet und immer noch in Heide. Meinem Heimatort, an dem sich unsere Wege damals als Kinder gekreuzt und später verflüchtigt hatten. „Bist ja weit rumgekommen“, sagte ich völlig ohne Süffisanz.

Und es brach wieder aus ihm raus. Sofort. Ohne Punkt und Komma. Ich hatte wieder einen imaginären Knopf gedrückt. „Ja du. Und Du hast es geschafft oder was? Wer hat denn seine Laufbahn bei der Polizei vorzeitig gekündigt. Wer war den im Knast? Wer hat denn seine Mutter verrecken lassen? Du oder ich?“ Geifer lief ihm über die Lippen. Feiner Nebel seiner Brüllerei verfing sich in den Rauchschwaden meiner Zigarette. „Wer hat sich um deine Mutter gekümmert, als Du getürmt bist? Wo warst Du in dieser Zeit?“

Es machte Plong in meinem Kopf. Der Groschen fiel mit Nachdruck. Warum wusste der Spacken so viel von mir? Und was hatte meine Mutter damit zu tun? Hat er ihr gesteckt, dass ein Polizist mit Selbstmordabsichten keinen Dienst an der Waffe tun darf? War er der Grund für meine Suspendierung in jungen Jahren als Bulle. Als meine Mutter meinen Vorgesetzten anrief und von meinen Selbstmordabsichten fantasierte? Meine Drogenmutter wäre nie auf diese Idee gekommen. So clever und charismatisch sie war - never. Den Einblick in Entscheidungen der persönlichen Führungsebene bei der Polizei hatte sie nicht. Schlimm genug, dass ich wegen seinem Mimimi damals echt schlechte Karten in Sachen Gymnasium bekam. Hatte er auch Anteil daran, dass ich inhaftiert wurde? Weil ich einen Penner in meiner Heimatstadt ausgeraubt haben soll. Meine mich liebende Mutter hatte mich damals angezeigt. Da es keine Zeugen gab, verlief das schnell im Sande. Aber eine Kerbe in der Personalakte eines sowieso recht renitenten Bullen gab es als Zugabe noch oben auf. Michael verstummte. Er sank praktisch in sich zusammen. Ich wollte ihn schlagen. Nicht nur ob meiner plötzlichen Erkenntnis. Viel mehr für die Leiden meiner Polizeizeit, die sich durch diese Erkenntnis in ein völlig anders Bild setzen ließen.

Ich wusste, dass es keine gute Idee war, diese Pussy zu schlagen. Ex-Polizist schlägt leitenden Oberbeamten. Alles in mir war auf Alarm-Modus. In den Sekunden, in denen mein Hirn in Nebel und zeitgleich gleißendes Licht getaucht war, richtete er sich wieder etwas auf und zischte: „hast du nie bemerkt, oder?“ Ich hörte etwas in seinem Gesicht brechen, als meine Faust sein Gesicht traf. Er viel like hollywood der Länge nach über den Tisch. Ich starrte noch eine ganze Weile auf dieses Häufchen Elend, dass sich auf der anderen Seite des Tisches nach unten fiel. Sich dann durch die Stühle kämpfte. Sein Parka war voll mit Getränken und Essensresten von den Tellern, die sich auf dem Tisch befanden. Michael rappelte sich hoch und versuchte unbeholfen, den Raum zu verlassen.

In diesem Augenblick erschien Zorka. Schon damals war unsere Devise: nie pünktlich erscheinen. Immer zu spät. Dann gucken alle, wenn Du eintrittst. Nichts hatte sich verändert. Michael hastete an ihr vorbei. Zorka drehte sich kurz nach ihm um und blickte dann wieder in unsere Richtung: „So wie ich es sehe, hat sich nichts geändert!“Es war noch gut zwei Augenblicke absolut still. Ein Kellner hatte den Tumult bemerkt und stand reglos hinter Zorka. Dann entlud sich die Spannung in brüllendem Gelächter. Zorka hatte sich nicht verändert. Böse Zungen würden Sie mit ihrem Auftritt und Outfit einfach nur als Domina bezeichnen. Ihre damals braunen, kurzen Haare waren nun als Bobby geschnitten. Kirschrot mit schwarzen Strähnen. Langer Ledermantel bis zum Boden. Ihr Schuhwerk hätte jeden Motocross-Anhänger neidisch gemacht. Mit einer gekonnten Bewegung schwang Zorka den Ledermantel von ihren nackten Schultern, setzte sich auf den Tisch und schrie: „Kellner - Anmarsch!“ und schnippte mit den Fingern. Wir alle hatten noch einen wirklich netten Abend. Zorka und ich teilten uns später ein Zimmer in diesem verschlafenen Landgasthaus. Noch einmal und weit mehr und besser als noch in unserer Jugend. Seither haben wir uns nie wieder gesehen. Eventuell sicher besser so. Was für ein verrücktes Biest! Ich habe allerdings nach diesem Treffen auch nie wieder etwas von Michael gehört. Ganz sicher besser so!

Essenz

Meine Noten waren mir klar. Ich würde den Abschluss am Werner-Heisenberg-Gymnasium nur mit einer Baggerschaufel voller Glück schaffen. Ich war 17 Jahre alt. Mir ging eh alles grad am Arsch vorbei. Die Aufnahme in die Bundesliga als Fußballer hatte ich wegen meiner kaputten Knie verkackt. Meine Prüfung bei der Polizei, für den gehobenen Dienst, hatte ich dagegen mit Auszeichnung (trotz kaputter Knie?) bestanden. Aber ohne entsprechendes Zeugnis und Belobigung – no way! Du musst es Dir vorstellen. Da gibt es in der Deutsch-Prüfung 4 unscharfe Zeichnungen aus einem 70´er Jahre Fax-Gerät. Eine „Kohlenschaufel“. Und Du sollst dazu einen Aufsatz schreiben. Ein Comic sozusagen schriftlich vertonen. Wow – was für eine Aufgabe, um Polizist zu werden? Was nutzt das aber alles, selbst wenn du (natürlich) mit Bestnote diesen Kindergarten-Aufsatz hinlegst. Wenn ich wenig später  den Abschluss an diesem hochherrschaftlichen Gymnasium verkacke. Ich war wieder einmal angepisst. Ich hatte Zorka versprochen, sie abzuholen. Wie es bei altehrwürdigen Gymnasien der Fall war, gab es auch hier eine exorbitant schöne und weitläufige Auffahrt. In meinem Brass steuerte ich mein Moped direkt über die breite Auffahrt auf Zorka zu. Machte einen Power-Slide kurz vor ihren Füßen. Zorka rührte sich nicht einen Millimeter. Schmiss sich lächelnd hinten rauf und schlang mir ihre Arme um die Taille. Helm? Was soll der Shit? Wir brausten quer über die Beete und den Direx-Parkplatz davon. Nur ein paar Tage später stand die Polizei vor der Tür meines Elternhauses. Tatverdacht auf Nötigung, Rauditum und Entführung. Antragsteller: das Werner-Heisenberg-Gymnasium. Endlich hatten die Pisser mich wirklich an den Eiern. Ich flog achtkantig von der Schule. Mit Hauptschulabschluss!

Du kannst keinem Menschen hinter die Stirn gucken. Erst wenn dieser Mensch mit dem Rücken an der Wand steht. Erst wenn ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Erst wenn er alles verliert, wirst Du erkennen, zu was dieser Mensch wirklich fähig ist. Dann siehst Du seine Stärke, Durchsetzungskraft, Loyalität oder auch Demut und Erkenntnis. Oder eben genau das Gegenteil. Bis dahin bleibt es immer - das ganze Leben - ein Fischen im Trüben. Eventuell erklärt das ein wenig meinen Hang zu gefallenen Persönlichkeiten, die sich trotz aller Widerstände immer noch an einem grandiosen Sonnenaufgang oder einfach nur am harmonischen Flug einer Scharr von Schwalben in vollem Tempo begeistern können. Es gibt nur dieses eine Leben. Dein Leben

Feuer frei ---

Zorka, mein Moped und mein Schulabschluss waren abgehakt. Da ging nichts mehr. Ich würde die Prüfung bei der Polizei erneut machen müssen. Ein Bittschreiben meines Vaters sorgte dafür. „Der Junge will nichts mehr, als Polizist werden!“ Drauf geschissen. Mir ging es in dieser Zeit um nichts anderes als Speed und Kohle für diesen Speed.

Natürlich hatte ich alles gelesen, was es über Motorräder auf dem Markt zu lesen gab. Und. by the way, es gab damals noch kein Internetz. Ich wollte diese ultimative Maschine, diese eine. Mein Thunderbike, sobald ich den Lappen dafür in Händen hatte. DOMOLS gab es noch die „freiwillige PS-Beschränkung“ in Deutschland bis maximal 100PS (bis 1999). Ich war also 1979 mittendrin in dem Dilemma. Ich wollte mehr!

Wie es so auf dem Dorf ist - jeder kennt jeden. Und der Sohn eines Bauern hatte genau diese Maschine im Stall stehen. Die Kawasaki 650er Cup war eine Rennserie für die Straße. Zwar auch nur 82PS, aber im Renntrimm leichter als jedes vergleichbare Serien-Fahrzeug. Nur 2000 Stück wurden damals davon hergestellt. Die hier fristete ihr tristes Dasein im Stall.  Genauer gesagt im Schweinestall. Mit Gülle und Schweinescheiße bis zum Motor bedeckt. In einem Mitleid erregenden Zustand. EGAL - ich war verliebt!

Die Karre kostete damals noch neu 8.200 DM. Völliger Nonsens-Preis. Aber ich hatte schon mehr riskiert, wenn ich verliebt war. Völlig überbezahlt - ich weiß - aber MEINS! Mit dem Tore schießen, Rasenmähen, Auto-Putzen und Botengängen + ein wenig Sponsoring meines Vaters wurde das Teil bezahlt. Und ich schrubbte. Und ich wusch. Ich verbrauchte mehr Stahlwolle als die hiesige Tankreinigungsfirma. Polierwolle wurde knapp in meiner Heimatstadt. Die völlig durch Gülle verrotzten Motorschrauben besorgte mir "mein Dealer von der Tanke" in feinstem Zustand. Ein Galvanisierungsbetrieb, dessen Leiter der Schwager des Neffens eines Bruders von irgendeinem Skatfreund meines Vaters war, sorgte sich um die Speichenfelgen und deren Laufkultur. Kurzum … ich brauchte knapp 6 Monate, bis die Karre startklar war. Meine Karre - mein Eintritt in eine Welt ohne Grenzen.

Apropos Dealer meines Vertrauens von der Tanke: kennt ihr das noch? Bin ja über Jahre zuvor diese Zweitakter mit dem 1:50 Gemisch gefahren. Und bei uns auf dem Dörben hatte die Tankstelle so eine Zapfsäule an der Tanke mit zwei Aufsätzen. An der Kasse haste für einfoffzich zwei Token bekommen, hast den Rüssel in den Tank gehalten und den ersten Token in die Öffnung links der Zapfe gesteckt. Danach den Rüssel gewechselt, wieder in den Tank rein und den zweiten Token in die Öffnung rechts von der Zapfe. Und fertig war die stinkende 1:50 Pampe.

Grenzenlos

Führerschein in Dithmarschen? Wo du schon mit 7 Jahren einen Trecker und mit 11 Jahren ein Auto mit Lenkradschaltung fehlerfrei fahren kannst. Zumindest wenn der Sitz nah genug an den Pedalen ist oder Du die 12cm Holzklötze mit den Lederriemen an die Schuhe bekommst. Und ein Freund eines Freundes auf dem Dorf ist „natürlich“ Fahrlehrer. Kein Problem: in 4-5 Fahrstunden war der Lappen klar. Inkl. Auto, Motorrad bis hin zum LKW mit Anhänger. Was kostet die Welt …

Ich war es ja so gewohnt. Kurze Hose, T-Shirt und Badelatschen waren die Grundausstattung auf dem Moped. Nun war es aber eine echte Rennmaschine - eine Cup-Version. Leistung ohne Ende für damalige Verhältnisse. Meine erste Fahrt mit dem gewohnten Dress brachte mich auf´s Polizeirevier. Zumindest ein Helm statt der Sonnenbrille wurde gefordert. Von da an stand ich ein wenig unter Beobachtung, was so mein Outfit betraf. Wenig später schoss ich mich mit der Karre das erste Mal von der Bahn. Nicht, weil ich nicht fahren konnte. Es war einfach nur kindliche Blödheit. Endlich wurdest Du mit einem Motorrad auch von anderen Bikern akzeptiert. Tausende Male hatte ich auf dem Mofa oder dem Moped lässig die Hand zum Biker-Gruß gehoben. Nie wurde dies erwidert. Jetzt aber – jetzt musste es klappen. Ist nur blöd, wenn dieser Gehirnfurz dich bei 170km/h überfällt. Du den linken Arm zum Gruß hochreißt. Es dir über den plötzlichen Luftwiderstand den Arm nach hinten und damit den Lenker verreist und Du statt in die Kurve einfach geradeaus in ein frisch gedüngtes Ackerfeld ballerst. Und schon wieder lagen wir, diesmal gemeinsam, in der Gülle.

Der andere Mopedfahrer drehte bei und kam zurück. Mir war nichts passiert – Schlamm und Scheiße dämpfen ungemein. Da es noch keine Handys gab, ist der Typ in die Stadt gegurkt, hat Meldung gemacht und wenig später kamen Jan (mein Dealer von der Tanke) und ?? noch einer mit dem Trecker und die Kawa wurde auf den Hänger gehievt.

Einmal mit Alles – schaaf!

Frisch durch die Jauche gebrezelt, betrachtete Jan nun den Schaden. An sich macht er ja nur in Traktoren – aber Schrauber ist halt Schrauber. Wir sprachen kurz drüber, ob ich die Karre wieder aufgebaut haben wolle. Klares Ja. Es wurde ein wenig telefoniert. Es wurde bestellt und mit etlichen Bata Deals was eingefädelt, an denen mein Vater damals noch großen Anteil hatte (erst viel später kam das raus!). Gute 5 Wochen sah ich weder meine Karre noch Jan. Die Werkstatt hinter der Tanke war zugehängt. Das war der Deal: „Lass mich mal machen – stör nicht!“ Die Wochen auf dem Fahrrad – mitten im Sommer – waren die Pest. Mein Vater ließ mich ackern wie blöd und auch meine Mutter hatte eine nicht endend wollende Aufgabenliste für mich.

Irgendwann stand Jan mit dem Trecker vor dem Laden meiner Eltern und grinste frech: „Bock auf Bock?“ Einfach so. Mitten auf der Hauptstraße geparkt. Das Ergebnis war so überwältigend, dass ich mich damals wirklich vor Freude eingenässt habe. Für Freunde der „Uralt-Technik“ der 80er: Lenhard&Wagner 4:1, Tomasseli Stummel, Leichtmetallfelgen (der damals neuste shit!!) und das gesamte Fahrwerk über Koni aufgebaut nebst neuer Sitzbank. Dazu noch ein Bohrkit (damals keinen Dunst – ich vertraute meinem Dealer), der die Karre von nominell 82PS auf etwa 100PS brachte. Gemessen am Hinterrad! Bei 12kg weniger Gewicht als im Originalzustand. Ein Hammergerät – a star was born!

Und nun mal das geistige Auge auf Empfang! Dieser Junge, der bis dato nie Grenzen hatte und immer erst, wenn Blut kam, mal ein wenig nachdachte, fuhr dann mit genau dieser Karre zum nun schon zweiten Eignungstest der Polizei Hamburg. Die 4:1 Auspuffanlage war so laut, dass ich auf dem Bock Watte in Den Ohren hatte. In der Mensa alle wussten … da kommt noch einer! Auch wenn ich gut 15min zu spät war. Schwarze Boots, schwarzes Leder bis zum Hals, Tankrucksack geschultert und lange blonde Haare bis zum Arsch. Ich stieß die Tür zur Mensa auf: Mit einem lauten „Sorry – war Stau“ latschte ich durch den Raum und ließ mich auf einen freien Platz ganz vorn plumpsen. Erwartungsvoll blickte ich hoch, weil es absolut totenstill war. Drei Polimanzisten im vollen Brokat-Ornat starrten mich an. Einer erhob wenig später das Wort, zunächst ganz leise: „Der kommt zu mir!“ Dann sehr viel lauter direkt in meine Richtung: „Dich krieg ich!“ Der Beginn einer ultimativen Hassliebe mit PHK Rollenhagen für die nächsten 1.124 Tage (ja - ich habe sie gezählt!). Das ist aber die nächste Geschichte.

Benzin …

„Speed is only a question of money ...“ (Mad Max). Wer hat diesen Film, wenn vom Ballern mit dem Motorrad nicht angefixt, etwa allen Ernstes nicht gesehen? An sich hätte ich, wenn wir mal Relation und Wahrscheinlichkeit bemühen, Anfang bis Mitte der 80´er schon den Löffel abgeben müssen. Es gab nichts, was wir auf dem Bike nicht probiert haben. Egal, welche YouTube Bike-Porns von heute in Eurem Schädel gerade ablaufen. Wir haben diese um ein Vielfaches gerissen. Anfang der 80´er gab es dafür leider noch kein Forum. Ist sicherlich auch besser so …

Dieses Kapitel ist allerdings einzig und allein dem PHK Rollenhagen gewidmet. Im weiteren Verlauf einfach Rollo genannt. Ein echt mieser … aber irgendwie auch geiler Typ. Er hat mich geknechtet und abgemahnt, wo es nur ging. Ich war in der Ausbildung zum Polizeibeamten und diese miese Sau war mein „Vertrauens- und Klassenlehrer“. Um alle Bedenken von vorn herein zu killen: Ohne „Rollo“ wäre ich niemals länger als maximal 5 Monate in der Ausbildung zum Polizeibeamten geblieben. Punkt! Ohne Rollo hätte ich viele Momente als Polizist (schützen, bergen, helfen) weder genießen noch erfahren können oder gar dürfen und hätte viel an Lebenserfahrung oder Weitsicht niemals erreicht! Und ohne den „Rollo-Spirit“ hätte ich wahrscheinlich auch mein Leben als solches verloren. Danke somit Rollo (R.I.P)

Antreten

Rollo hatte mich ja schon am Tag meiner zweiten Eignungsprüfung auf dem Plan. Der Spruch in der Mensa - vor versammelter Mannschaft: „Den krieg ich - der kommt zu mir!!“ sagte an sich schon alles. In meiner damalig durchaus noch aufmüpfigen wie gleichsam kindlichen Denke waren damit schon die Gräben der Zukunft abgesteckt. Ich im vollkommen Lederdress, grad vom Hocker/Motorrad abgestiegen. Rollo in Uniform mit blinkenden Sternen und Ausbilder-Mütze. Ich mit Helm und nassen, dazu langen blonden Haaren bis zur Hüfte. Er betont bürokratisch. Ich laissez faire: „Der will nur spielen!“ Nein - wollte er nicht! Ohne Übertreibung: egal, wo ich stand, saß, aß oder gar Notdurft verrichtete. Rollo war da! Mein „Vertrauenslehrer“ konnte, zumindest außerhalb der Unterrichtsstunden, jederzeit über mich verfügen. Vor dem Unterricht (Frühstück) oder aber in der Mittagspause wie auch nach dem Unterricht konnte er mich auf die Geschäftsstube bestellen. Wenn ich nicht erschien, hätte ich ihm einen Grund zur Abmahnung (Befehlsverweigerung) gegeben. Also erschien ich. In zwei Jahren meiner Ausbildung zum Polizeibeamten der Hansestadt Hamburg an immerhin gut 500 Tagen. Dazu meist 2x am Tag - je nach Laune und/oder Terminen von Rollo. Und es machte auch keinen Unterschied, ob Rollo dann da war oder in einem Termin war oder zum Essen ging. An jedem Tag, an jedem f*****g day, also jeden Tag, lag in der Dienststube einfach nur ein leeres, weißes DIN A4 Blatt mit einem vorgedruckten Text vor: „Hiermit kündige ich aus persönlichen Gründen zum nächstmöglichen Zeitpunkt meinen Dienst und damit meine Ausbildung bei der Polizei Hamburg.“

Datum: ____________________     Gelesen und gezeichnet:  ________________

Wenn Rollo da war, verließ dieser Patriarch nach Darreichung des Zettels sein Dienstzimmer. Wortlos! Wenn nicht, hatte mich seine Stubenhilfe im Auge. Morgens und/oder abends saß ich dann da. Jeweils mindestens 30-50min. Zu Mittag auch gern eine gute Stunde. Ein frühzeitiges Entfernen ohne Erlaubnis hätte wieder eine Abmahnung; im Amtsdeutsch eine Dienstaufsichtsbeschwerde, nach sich gezogen. Vorne vor dem Dienstzimmer saß ja immer so ein minderbemittelter menschlicher Wachhund in Uniform. Ich war mir dessen völlig bewusst. Und genau diese Blöße gab ich mir nicht. Niemals. Nicht an einem einzigen Tag dieser tausenden von verschwendeten Stunden an Lebenszeit!

Mean Machine

Rückblickend betrachtet war Rollo kein wirklich böser Mann. Rollo war halt Rollo. Außer Schwarz und Weiß gab es für ihn keine Farben. Richtig oder falsch waren damit, in seiner Denke, ganz einfach einzuordnen. Gut und Böse ebenso. Recht und Gesetz, Anstand, Ethik und Moral waren die Eckpfeiler seines Denkens. Nicht so weit weg von meiner Erziehung. All das, was Rollo predigte, hatte mein Vater mir schon über die letzten, nun schon knapp 20 Jahre, eingeimpft und anerzogen.

Was Rollo und mich trennte war einzig und allein die Uniform. Und meine immerwährende Frage nach dem „Warum“? In Rollos Augen war ich ein Nichtsnutz. Er lernte mich kennen als Kind ohne Grenzen. Hungrig, wissbegierig und … sagen wir mal naturbelassen. „Geht nicht“ gab es für mich bis dato nicht. Ich hatte immer noch lange Haare bis zum Gürtel. Ich hörte Deep Purple und Savatage, ich spielte fast nackt Fußball in meiner Freizeit und hatte trotz oder gerade deswegen eine tolle hood mit meinen Kommilitonen im gleichen Jahrgang. Was in Sachen Regeln und Gesetzmäßigkeiten für einen angehenden Polizeibeamten in den Augen von Rollo naturgemäß an Blasphemie grenzte. Das ich dann noch ein Verfahren gegen den „Haarerlass“ der Hamburger Innenbehörde anstrebte, gab dem Mann dann wahrlich den Rest.

Fakt: in meinem Jahrgang 1981 wurden nun auch gern Frauen angenommen. Nichts dagegen. Absolut nichts! Machen „fast“ den gleichen Dienst wie die Kerle. Lernen den gleichen Stumpfsinn und verdienen die gleiche Kohle. Aber dürfen lange Haare haben. Ich als Kerl aber nicht? Die Frage nach dem „Warum“ stellte sich mir in der Ausbildung an sich jeden Tag. Hier sah ich mich in meiner … wie heißt es heut im „Gender-Vokabular“ so schön - Selbstfindung - in Relation zur Weiblichkeit doch sehr beschnitten. Im wahrsten Sinne des Wortes! Also ging ich dagegen an. Auch „meine“ Haare kann ich zum Dutt verarbeiten und unter einer Dienstmütze verstecken. Kein Problem! Diese Nummer und damit leider ausschließlich nur meine Nummer, ging bis zum LG Hamburg. Ein junger Polizeibeamter besteht auf seine langen Haare. Es ging in der Urteilsfindung nicht um die Relation zu den weiblichen Kolleginnen. Es ging nur um mich. Als Mann, der auch lange Haare in Uniform tragen wollte.

Verloren

Klar hatte ich diesen Kampf verloren. Es ging hier nicht um Logik. Egal, was mir in meinen jungen Jahren eingeimpft wurde. 1+1 ist nur dann 2, wenn es in den Augen des weisungsfähigen Betrachters Sinn machte. Es wurde mir im Verlauf der langen Verhandlungen völlig klar. Ich würde hier nichts holen. Aber zumindest einen Versuch war es wert. Rollo heimste sich eins und kam jeden Tag quitsch und fidel aus der Rektorenbesprechung. Er pikste mich noch mehr, als er es vorher tat und suchte nur nach einem Grund, mich des Unterrichts und damit nachhaltig der Ausbildung zum Polizeibeamten zu verweisen.

1. Die schwarzen Polyestersocken der Hansestadt waren ein Muss in Sachen Uniform. 5-10min nach dem Anziehen dieser schwarzen Müllbeutel hast Du „down under“ gestunken wie ein Iltis. Also habe ich - 80er Jahre halt - aus Prinzip und Selbstschutz weiße Tennis-Socken aus Baumwolle getragen. Abmahnung!

2. 30° Grad und mehr Temperatur hatten wir auch schon in den 80ern. In der Ausbildung - im Klassenzimmer einfach mal diesen „Fertig-Schlips“ (nix mit Binden - nur anstecken!) abnehmen und den obersten Hemdknopf öffnen. Abmahnung!

3. Morgens spät dran und die Hemdklappen, diese Flügel, die dich als Gefreiter, Strunz-Popel oder halt Anfänger-Bulle haben erkennen lassen, einfach mal vergessen. In einer Schule mit ca. 1.500 Polizeianwärter-Strunz-Popeln. Alle gleich und ja: jedem war auch damals schon klar, wer ich bin. Nur Rollo sah das anders. Abmahnung!

Möglichkeiten für Rollo gab es zuhauf. Wir waren eine sogenannte „Problemklasse.“ Alles ja nur Haupt-Schöler! Die Röteln-Epidemie im PAZ-Ausbildungszentrum Hamburg ging auf meine Klasse (einfach mal googeln). Aber es war an sich völlig egal, wo sich meine Klasse bewegte oder wie diese Klasse sich verhielt. Ich war auch hier immer der Ansprechpartner für meinen Klassen- und Vertrauenslehrer Rollo. Ich weiß heute nicht mehr, was da abging. Was der Auslöser war und/oder worum es ging. Ich weiß nur noch, dass ich meinen Ausbilder Rollo vor der Klasse auf den Flur gebeten habe: „Lass uns das draußen klären - unter Männern!“

Rollo lächelte (hatte er je gelächelt?) wissend und zeigte mir sofort, mit einer kurzen Handbewegung, den Weg zur Tür. Ich ein Bubi von 19 Jahren mit Wut und Kindersperma plus diverser Abmahnungen im Pelz. Er ein erfahrener Mann und zudem professioneller Boxer. Die Klasse war still. Eine Stecknadel hätte man gehört. Ich war auf alles gefasst und das Adrenalin lief mir buchstäblich aus den Ohren. Ich wollte den Mann wegmachen. Einfach umhauen. Einfach mal einen Tag Ruhe haben vor diesem Wichser. Rollo drehte mir aber, nachdem er betont langsam die Tür geschlossen hatte, einfach nur den Rücken zu und machte sich einen Zigarillo an. Absolutes Rauchverbot in der Schule! Bettete seinen Breitarsch entspannt auf einem Fenstersims und musterte mich. Ich war voll auf Zinne und kampfbereit: „Nun komm doch – Du Pussy!“ brüllte ich.

Und das erste Mal kam von ihm mein Zauberwort: „Warum?“ fragte er völlig entspannt. Nahm einen tiefen Zug aus seinem Zigarillo und glotzte mich mit offenen Augen an. Ich war völlig verdutzt. Der Mann war plötzlich die Ruhe selbst. Erklärte mir in ruhigen Sätzen, warum er mich tagein, tagaus in den Wahnsinn getrieben hatte. In seiner Welt kommen nur die durch, die allen Widerständen trotzen können und trotzdem erhoben Hauptes stehen bleiben!

Ich war baff. Jedwedes Adrenalin floss mir in die Blase. Rollo haute dann noch ein wenig gegen die Wände. Er schrie sehr laut rum und ließ die Fensterflügel im Flur laut schlagen, während er seinen Zigarillo in den Hof warf. Er öffnete die Klassentür und wies mir den Weg in die Klasse zurück. Ich verneinte. Ich musste pissen. Er lächelte. Nun schon zum zweiten Mal in 1.225 Tagen.

Only the best die young

Wir haben nie wieder über diesen Tag gesprochen. Alle Fragen meiner Klassenkameraden blockte ich kategorisch ab. Es gab nichts zu erzählen! Wenn ich heute über diese Minuten nachdenke, sammeln sich Tränen in meinen Augen. Ich machte meinen Abschluss mit sehr guten Noten und hatte alle Wege frei. Ich hatte trotz aller Widerstände meinen Weg gemacht. War in einer Einheit angekommen, in die ich gehörte. Der Schädeltrupp. Nur Gestörte und Durchgeknallte. Aber mein Rücken war immer safe. Verlass auf ganzer Linie in diese Truppe! Jahre später hatten wir Schießtraining. Eine große Hand legte sich auf meine Schulter. Rollo stand neben mir. Er zoomte meine Schuss-Kladde ran.  Musterte mein Ergebnis. Gab mir mit der Faust einen Stupser unter das Kinn und lächelte. Wortlos ging er. Knapp ein Jahr später war er tot. Krebs. Einfach umgekippt und aus. Die Bluteiche für Hamburger Polizisten auf dem Olsdorfer Friedhof wollte er nicht. Er wollte in Poppenbüttel anonym bestattet werden. 8 Menschen waren da. Nicht mehr. Nicht weniger. Rollo war halt nicht wirklich beliebt. Aber ein Kerl wie er im Buche steht. Mit allen Ecken und Kanten!

Danke Rollo. Und ganz im Ernst. Ich habe heute, gut 40 Jahre später, immer noch Tränen in den Augen, wenn ich an unsere beschissen geile Zeit denke und diesen Wust zu Papier bringe.

R.I.P.  PHK Rollenhagen.

Es gibt immer zwei Seiten. Aber nur eine, auf der Du stehst (cc. Daniel Wirtz)