Moritz begrüßte mich mit einem Lächeln. „Der frühe Vogel …?“ Ich war nun schon den dritten Samstag in Folge hier, um mit dem Sprinter ein- und auszufahren. Unser stationärer Laden würde uns an diesem Wochenende zu letzten Mal sehen. Moritz, ein gleichsam lebenslustiger wie bärtiger kleiner Pummel, hatte sein langjähriges Studium der Rechtswissenschaften irgendwann gegen ein Leben auf dem Planeten Lagerbox eingetauscht.
Die Woche davor hatte ich Herrn Hübner kennengelernt. Im Gegensatz zu Moritz ein eher betulicher Mitfünfziger, der, mit einem Minijob bewaffnet, hinter dem Schreibtisch im kleinen Büro dem Ende seiner regulären Arbeitszeit sehnsüchtig entgegen sitzt.
Überhaupt ist der Planet Lagerbox ein Sammelsurium von Geschöpfen der durchaus anderen Art. Anders im Bezug darauf, dass man die hier kreuchenden und fleuchenden Kreaturen wahrscheinlich nur selten im normalen Leben abseits dieses Habitats noch einmal antreffen oder gar zu Gesicht bekommen wird.
Da sind diese drei jungen Männer, die den gesamten Vormittag des letzten Samstags in der Durchfahrt unterhalb des riesigen Turms palavern. Lässig auf einem Rollcontainer sitzend. Angelehnt an die Motorhaube eines M-Klasse BMW der SUV-Klasse oder sitzend im Kofferraum eines sehr tiefen, jedoch um so breiteren Mercedes. Laut redend und gestikulierend. Jedoch sofort in den Flüsterton übergehend, wenn Schritte nahen oder eine Fahrstuhltür der riesigen Lastenaufzüge sich öffnet.
Da war die Dame, deren Dauerwelle noch den anmutigen toupierten Charme der 70er Jahre versprühte. Ebenso wie ihr bemitleidenswerter Daimler. Die Baureihe, welche noch mit echten Stoßstangen bewaffnet war. Jedoch nur durch die Unmengen an undefinierbarem Gedöns in ihrem Auto per Gewichtsbelastung tiefer gelegt wurde. Stolz und anmutig stolziert Sie aufrecht mitten durch die Creme de la Creme der drei Männer der Lagerbox-Mafia hindurch. Ihr Daimler, ihr Pelzmantel wie auch Ihr Geburtsjahr dürften allesamt Anfang der 60er liegen.
Dann ist da Charles. Charles ist, laut Moritz, schon seit gut 10 Jahren Kunde hier. Hat zwei „Suiten“ mit je über 200 Quadratmeter angemietet und macht in … Irgendwas. Ist aber praktisch jeden Tag hier. „Urlaub macht der nicht. Und wenn, dann hier!“ ist die kurze und knappe Aussage von Moritz.
Nun wird und mag es sicherlich eine Sache der inneren Überzeugung sein. Oder aber der Abkehr vom normalen Weltlichen. Oder von beidem irgendwie etwas. Doch jedes normale Lager, jede Garage, jede Mietswohnung oder Keller welche auf zwei, fünf oder gar zehn Jahre gemietet wird, ist ganz sicher um ein Vielfaches günstiger, als so eine Lagerbox. Jedoch jeder, der hier ein- und ausgeht, wird genau wissen, was er tut und warum er/sie es genau hier tut. Privater, anonymer, sauberer und zudem gesicherter als in diesem verwinkelten Lebensraum geht es kaum.
Ich treffe Sarah auf der vierten Etage. In etwa 25 Jahre alt. Der Inbegriff einer blonden, groß gewachsenen Schönheit. Jedoch nach außen ohne jegliches Leben. Geduckt und still. Die Art und Weise, wie sie den großen Lastenkarren vor sich bewegt, lässt Zweifel aufkommen, ob sie ihn bewegt oder sich daran nur festhält. Nach kurzem, intensivem Wortwechsel ist mir klar: Sie lebt. Zwar nur noch eine Hülle und ein Schatten ihrer selbst. Aber durchaus mit Herzschlag und funktionierender Lunge. Hat sich vom Kerl getrennt, von der Liebe ihres Lebens, dessen Name im Mietvertrag stand. Gern helfe ich ihr noch dabei, ein Regal vom Lastesel zu hieven und in ihrem Verschlag zu verstauen. Drei Quadratmeter für einen Lebensabschnitt. Shit happens!
Unten treffe ich wieder die Dame mit der monströsen Dauerwelle. Wie nehmen gemeinsam einen Fahrstuhl nach oben. Zeit für mich, wieder mal nachzufragen. Ich liebe diese Momente. Man kann dabei einfach nicht verlieren. Bei einer Antwort, völlig egal welcher Art, kann es nur einen Lerneffekt geben. Bei keiner Antwort hat man nichts verloren, außer ein paar Worte und einen Lidschlag an Zeit. Dagmar macht, seit dem Tod Ihres Mannes, in Floh- und Trödelmärkten. Hat hier vier kleine Kabinen zu jeweils vier Quadratmetern angemietet. „Fein säuberlich getrennt in Nippes und Glas, Elektro, erlesener Tischdeko und Küche.“ Sagt sie. Nicht ohne einen gewissen Stolz, während ich auf einen aus dunklem Holz geschnitzten Bären zeige, der ohne weiteres auch als Igel oder gar Fasan durchgehen würde. Wohnungsauflösungen in der Woche wären ihr Hobby. Kleinanzeigen Ihre Zeitung. Trödel am Wochenende Ihre Erfüllung. Geld spiele dabei nur eine untergeordnete Rolle. Der Spaß und die permanente Abwechslung. Das „Zu-Tun-Haben“ wären hier entscheidend. Um nicht Nachdenken zu müssen. Während dieser Worte fischt sie behände eine Red Bull Dose aus Ihrer riesigen Umhängetasche und lächelt mich an. Unzählige Kronen schimmern in perfektem Perlmutt durch ihren übertrieben aufgetragenen roten Lippenstift.
Wieder im Parterre angekommen, erwartet mich eine Armada von Kerlen einer Umzugsfirma. „Der Starke Anton“ steht unübersehbar auf zwei XL-Sprintern als Slogan über dem Abbild eines Typen in schwarz roter Uniform, der augenscheinlich einen Mix aus Barbie-Ken und Clark Kent darstellen soll. Schier unzählige Männer in seiner Uniform sind am Wuseln. Teppiche, Fernseher, Truhen. Unfassbar viele gelbe Müllsäcke mit zur Unkenntlichkeit zerdrückten Textilien und wannenweise Nippes aus anderen Welten. Eines dieser ominösen Tore zu diesen 200 Quadratmeter Suiten tut sich vor mir auf. „Schrott – einfach nur haufenweise Schrott!“ tut sich als Beschreibung in mir auf. Inmitten dieser wuselnden Heerschar von Packern eine ältere Dame mit einem Block und spitzem Bleistift. Ruhig und ohne viele Gesten Anweisungen gebend. Eine Bibliothekarin, wie sie im Buche steht.
Binnen Minuten hatte der Spuk ein Ende. Etwas Staub und die Gerüche eines oder gar mehrerer längst vergangenen Leben waberten noch ein paar Sekunden durch die Gänge, nachdem das große Tor dieser Suite geschlossen wurde. Kaum traten die Packer samt Bibliothekarin aus dem großen Tor, hörte man wieder Sechszylindrige Boliden die Rampe empor husten. Die junge Lagerbox-Connection vom letzten Samstag traf sich wieder zum Stelldichein, um über die kommende Weltherrschaft und das zu verteilende Welterbe im Schein von Neonlicht, Auspuffgasen und absoluter Diskretion zu philosophieren.
Nur wenige Stunden im ureigenen Kosmos Lagerbox. Eine – wieder einmal – inspirierende Erfahrung!