Kleidgen Industrial Services

15 Stunden zuvor ...

Rainer Kleidgen stieg aus dem Fahrstuhl, der direkt auf seiner Etage im achten Stock endete. „High End“ prangte in weißen Lettern auf rotem Grund im großen Display des Aufzugs. Er richtete noch einmal seinen marineblauen Zweireiher mit den auffälligen Messingknöpfen und glitt geschmeidig wie ein Aal in das Foyer seiner mehr oder weniger privaten Geschäftsräume.

Dorothee Prange, seine seit über 20 Jahren für ihn tätige Chefsekretärin, hatte wie an jedem Werktag um 7.03 Uhr bereits das Wasser für den Tee aufgesetzt und die Türen zur überdachten Terrasse des weitläufigen Büros ihres Chefs geöffnet. „Guten Morgen, Herr Dr. Kleidgen“, flötete sie ihm wie jeden Morgen entgegen und freute sich stets über sein Lächeln, seine angedeutete Verbeugung und seinen kräftigen Händedruck.

Nach dieser immer gleichen Zeremonie ging Rainer Kleidgen wortlos in sein Arbeitszimmer, nahm seinen Zweireiher ab und hängte diesen, fast behutsam, über einen stummen Diener. Diesen hatte schon sein Vater benutzt. Ein immer noch blendend helles Elfenbein aus dem Besitz einer alten Hamburger Dynastie, deren Stammsitz über ein Jahrhundert lang Indien gewesen war und bis heute auf die Freimaurer zurückgeht.

Auf der Terrasse angekommen, öffnete er die ersten beiden Knöpfe seiner Weste und griff nach oben. Im Untergriff an eine fest installierte Eisenstange unterhalb der Überdachung. Er zog sich genau 12 Mal hoch und machte eine kleine Pause, die nie länger als 30 Sekunden andauerte.

Nach genau vier dieser Durchgänge ging er in seinen Privatraum im Nebenraum des Büros und erschien genau um 07:21 Uhr wieder in seinem Arbeitszimmer. Ein neues Hemd und eine neue Weste schmückten seinen Körper, der trotz der fast vollendeten 60 Lebensjahre immer noch gestählt war. Fast liebevoll ließ er das akkurat gefaltete Hemd und die zuvor getragene Weste in einen vorbereiteten Wäschesack auf den Schreibtisch seiner Sekretärin gleiten.

Nach dieser tagtäglich wiederkehrenden Prozedur nahm er, wortlos und praktisch im Gehen, das fertige Tablett mit allen Utensilien, die er für die morgendliche Durchsicht seiner Korrespondenz benötigte, mit. Das Tablett war aus hellem, sehr dunkel gebeiztem Eschenholz. Rechts eine Mulde für die Post. Links zwei Aussparungen für Teekanne und Tasse und dazwischen eine fest installierte Eschenschale mit herausnehmbarem Porzellan-Einsatz für den benutzten Teebeutel.

Pünktlich um 7.27 Uhr saß Rainer Kleidgen an seinem voluminösen Schreibtisch und goss sich einen frisch aufgebrühten Ingwertee ein. Er liebte diese Rituale. Er liebte den täglichen Wettstreit mit der schier unerbittlichen Zeit als Konkurrenten. Er liebte Konkurrenz überhaupt. Und er liebte es, sie zu demütigen und zu vernichten, während er wieder auf seine Armbanduhr sah.

Exakt um 7.29 Uhr erschien seine Frau Prange mit den Wirtschafts- und Tageszeitungen. Zwei Minuten früher als gestern. Zwei Minuten früher als den gesamten Monat über.

Er lächelte. Um 7.30 Uhr würde ihn sein nichtsnutziger Sohn anrufen.

Anrufen müssen ...

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