Freunde

Buch: Wie weit willst Du gehen

Chapter 3

Edit: Freunde

Song: Doro – für immer


Damals

Schon mit dem Beginn der Schule tat sich mir eine Fähigkeit auf. Ich konnte diese damals nicht benennen. Sobald ich etwas gesehen oder gelesen hatte, war es da. Präsent. Quasi plastisch und zum Anfassen. Ich konnte praktisch aus meinem Kopf bei mir selbst abschreiben. Viel später lernte ich den Begriff dafür. Fotographisches Gedächtnis. Es ist heute immer noch so. Die Augen sind zwar schlechter – aber der Kopf arbeitet noch so wie damals. Dem wer-auch-immer sei´s gepriesen.

Die Schule war für mich nie ein Thema. Die eine oder andere Hänselei ob meiner Körpermaße steckte ich lächelnd weg. Ich war überall und immer ganz vorn dabei. Egal, ob Mannschaften per Entscheid ausgewählt wurden, ob es um den Klassensprecher oder die Schülerzeitung ging. Ich war immer erste Wahl.

Warum? Ich kann das nicht erklären, da ich kaum einen anderen von damals fragen kann. Sicherlich lag es aber daran, dass das Leben damals – so ab 1968 – für mich ein einziger Freudenkeks war. Probleme gab es nicht. Und wenn, habe ich diese gelöst, bevor ich überhaupt gemerkt hatte, dass es ein Problem werden könnte. Ich schwamm durchgehend und über Jahre auf einer Woge der Euphorie. Nichts viel mir schwer. Nichts war für mich unmöglich und ich musste mich dafür noch nicht einmal strecken. Oder gar anstrengen. Es fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes in den Schoss.

Anders

Natürlich war ich anders als der Rest meiner damaligen Mitstreiter, Gefolgschaft oder Kommilitonen. Ich nenne es mal Bekannte. Ich musste nie wirklich lernen. Schulaufgaben waren fast immer in Bruchteilen von Minuten erledigt und dann ging ich auf die Straße in unserem Dorf. Ein langer Pfiff auf der Trillerpfeife und Schwupps trafen wir uns auf dem sogenannten „Dreiangel“ (ein Parkplatz mit drei Ausfahrten) zum Kicken bis zum Abendbrot oder zum eigentlichen Fussi-Training für die Auserwählten, die beim ABC-Wesseln mitmachen durften. Zudem war ich der „Sohn von Hutmüller“. Bei den Eltern in meinem Bekanntenkreis hatte ich keinen Namen. Ich war nur und einzig der Sohn meiner Dynastie. Der Sohn von Hutmüller. Mein Vater gab mir, schon als Kind folgende Message auf den Weg: „Drei Regeln mein Sohn: deine Zensuren müssen stimmen – ich hole dich nie aus dem Knast – ich zahle keine Alimente!“

So einfach wie simpel. Mit gut 9 Jahren kann man da nicht viel falsch machen, wenn man, was man einmal gelesen oder gesehen hat, nicht wirklich lernen muss. Ich hatte also völlige Narrenfreiheit, welche ich in vollen Zügen genoss. So einem Überflieger laufen die Menschen nach. War damals so – ist heute so. Wo ich eintrat, ging das Licht an. Wo ich anwesend war, war Party angesagt. Was ich sagte, hatte zumindest Gewicht – wenn es nicht zum Gesetz wurde!

Zorka

Das Erwachsenwerden konnte ich leider nicht aufhalten. Soweit reichten meine Superkräfte nicht. Heute den langsamen Verfall. Damals das langsame Erwachen der Pubertät. Dem Einhalt zu gebieten war weder ein Plan noch Fähigkeit gegeben.

Die absolut genialste Braut in meiner Klasse war: Zorka. Überlegt einmal kurz und denkt in die Anfänge der 70´er. Wer kommt- im verschlafenen Dithmarschen – auf die unsinnige Idee, seine Tochter Zorka zu nennen? Computerspiele, geschweige denn Computer allgemein gab es noch nicht. Zorka war das fiese Pendant in weiblich zu meiner eher netten Persönlichkeit. Wild. Ungezähmt und unerbittlich. Nichts und niemanden lies diese Frau gelten und jeder, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, wurde bis auf ein Minimum an Lebenswillen erniedrigt. Es war klar und unausweichlich, dass wir die Klingen über Monate bis auf´s Blut kreuzten. Und uns wenig später gegenseitig in einigen zaghaften Versuchen die Unschuld nahmen. Und es wurde nie publik. Sie wie auch ich genossen unseren Helden-Status. Da wäre die Bekanntmachung von gegenseitigem Sekret-Austausch oder gar einer andauernden Beziehung semi-professionell gewesen. Wir waren 13-14 Jahre alt. Aber schon Profis in unserem Business.

Der Bringer

In dieser Zeit ereilte mich ein Nierenversagen. Immer nur im T-Shirt auf dem Mofa kann zu so etwas führen. Sagte mein Haus- und Hofarzt Dr. Muri aus dem Kreiskrankenhaus Heide. Ich erwähne das hier extra, weil dieser Kerl von einem Arzt noch viel mit mir und meiner Dynastie im weiteren Verlauf zu tun hat. Ich sage nur „10er-Karte“! Ich musste halt daheimbleiben. Dick in Watte eingepackt. Vater über seiner Buchhaltung. Mutter bei der Arbeit. Die drei Schwarz-Weiß Programme der 70ér brachten mich auch nicht wirklich auf Fahrt. Also Lesen. Viel lesen. Moby Dick hätten Sie etwas kürzer machen können. Tolle Story, aber 200 Seiten hätten echt gereicht. Tom Sayer war mein Held. Robin Hood sowieso und dann kam das Buch des Krieges. Das ist aber wieder eine ganz andere Geschichte. Einer meiner Freunde damals hieß Michael. Michael bracht mir die Schulaufgaben. Michael ist das, was man heute einen Mitläufer nennt. Michael war immer da – hat immer applaudiert – hatte nie Widerworte und findet alles, was du tust, ultra cool und genial. Michael wohnte Luftlinie 600m entfernt und es war keine Mühe für ihn, mir den Lernstoff zu bringen.

Gut drei Wochen später durfte ich wieder zur Schule und meine Klausuren standen an. Nachschreiben wurde das genannt. 4 Klausuren an einem Tag. Allein mit einem Aushilfslehrer in einem Klassenraum. War nicht unbedingt prickelnd. Aber ich hatte ja gelernt - so what! Und ich habe jede Klausur mit Auszeichnung … verkackt! Ich hatte keinen Plan, was die von mir wollten. Ich habe gelernt. Schon weil mir in den vergangenen Wochen ultra langweilig war. Aber diese hier geforderten Themen in Mathe, Bio, Physik und Englisch kannte ich nicht. Nie gesehen. Keinen Plan? Bei der ersten dachte ich noch an einen Fehler meinerseits. Bei der zweiten kam mir schon so ein ungutes Gefühl. Beide Klausuren gab ich nach nur 20min Grübeln und Zetern ab. Die dritte sah ich mir nur kurz an und gab diese zusammen mit der vierten, nur mit meinem Namen gezeichnet, beim Bewacher ab.

Michael stand unter einem Baum im Schulhof. Ein Teil meiner Klasse war bei ihm. Ich stürmte rücksichtslos durch die Ansammlung, krallte mir den Kerl und drückte ihn mit aller Gewalt, die ich damals leisten konnte, an die Mauer unserer Turnhalle. Michael hatte eine schmale Statur und ich kam im Laufschritt mit guten 70kg Kampfgewicht auf ihn zu. Er prallte an die Wand und fing sofort mit Stammeln und Weinen an. Ich musste noch nicht einmal fragen. Er plärrte sofort los. Das mir doch immer alles zufallen würde. Das er neidisch sei. Dass er es mir mal zeigen wollte, wie es andern an der Schule erginge. Ich gab ihm eine schallende Ohrfeige und er sackte zusammen. Diese Ohrfeige würde mich noch teuer zu stehen kommen. Das war mir aber damals wie heute völlig egal. Auch eine der vielen Dinge, die ich in meinem Leben eindeutig falsch angegangen war. Die ich aber nie bereut und auch immer wieder genauso machen würde.

Zeitsprung

Gut 20 Jahre später trafen wir uns wieder. Bei einem dieser ominösen Klassentreffen, die in vielen Filmen Stoff für allgemeines Ablachen bilden. Ich fühlte mich wieder wohl. Meine Polizeizeit lag hinter mir. Ich hatte ein aufstrebendes Unternehmen und gut zu tun. Es war wie damals oder immer. Auch dieses Landgasthaus in den Weiten der Dithmarscher Schweiz war mein Parkett. Wo ich war, war Licht und der Tisch war voll. Irgendwann kam Michael rein. Sah mich und zögerte. Ich stand sofort auf. Es war unverkennbar Michael. Einige hatten sich jeweils zum Positiven oder auch meist zum Negativem verändert. Er war einfach nur gealtert. Immer noch hager. Immer noch die Mundwinkel unten. Immer noch nur ein geducktes Lächeln, da es bei falschen Bewegungen oder gar Äußerungen ungemütlich werden könnte. Ich begrüßte Michael mit Handschlag und führt ihn zum Tisch. Er zog noch nicht einmal seinen dämlichen Bundeswehr-Parka aus. Saß da wie Karl-Heinz im Brunnenschacht und wartete anscheinend einfach nur auf die nächste Ohrfeige. Andere übernahmen das Gespräch und ich erfuhr, dass auch er den Polizeidienst gewählt hatte. Allerdings gleich die gehobene Laufbahn, da er nicht, wie ich, von der Schule geflogen war. Nun sass er zwischen Bergen von Akten in der Polizeidirektion Heide, im Betrugsdezernat. In Heide. Meinem Heimatort, an dem sich unsere Wege damals als Kinder gekreuzt haben. „Bist ja weit rumgekommen“, sagte ich völlig ohne Süffisanz.

Und es brach wieder aus ihm raus. Sofort. Ohne Punkt und Komma. Ich hatte wieder einen imaginären Knopf gedrückt. „Ja du. Und Du hast es geschafft oder was? Wer hat denn seine Laufbahn bei der Polizei vorzeitig gekündigt. Wer war den im Knast? Wer hat denn seine Mutter verrecken lassen? Du oder ich?“ Geifer lief ihm über die Lippen. Feiner Nebel seiner Brüllerei verfing sich in den Rauchschwaden meiner Zigarette. „Wer hat sich um deine Mutter gekümmert, als Du getürmt bist? Wo warst Du in dieser Zeit?“

Es machte Plong in meinem Kopf. Der Groschen fiel mit Nachdruck. Warum wusste der Spacken so viel von mir? Und was hatte meine Mutter damit zu tun? Hat er ihr gesteckt, dass ein Polizist mit Selbstmordabsichten keinen Dienst an der Waffe tun darf? War er der Grund für meine Suspendierung in jungen Jahren als Bulle. Als meine Mutter meinen Vorgesetzten anrief und von meinen Selbstmordabsichten fantasierte? Meine Drogenmutter wäre nie auf diese Idee gekommen. So clever und charismatisch sie war - never. Den Einblick in Entscheidungen der persönlichen Führungsebene bei der Polizei hatte sie nicht. Hatte er Anteil daran, dass ich inhaftiert wurde. Weil ich einen Penner in meiner Heimatstadt ausgeraubt haben soll. Meine Mutter hatte mich damals angezeigt. Da es keine Zeugen gab, verlief das schnell im Sande. Aber eine Kerbe in der Personalakte eines sowieso recht renitenten Bullen gab es als Zugabe oben auf. Michael verstummte. Er sank praktisch in sich zusammen. Ich wollte ihn schlagen. Nicht nur ob meiner plötzlichen Erkenntnis. Viel mehr für die Leiden meiner Polizeizeit, die ich durch diese Erkenntnis in ein völlig anders Bild setzen konnte.

Ich wusste, dass es keine gute Idee war, diesen Typen zu schlagen. Ex-Polizist schlägt leitenden Oberbeamten. Alles in mir war auf Alarm-Modus. In den Sekunden, in denen mein Hirn in Nebel und zeitgleich gleißendes Licht getaucht war, richtete er sich wieder etwas auf und zischte: „hast du nie bemerkt, oder?“ Ich hörte etwas in seinem Gesicht brechen, als meine Faust seinen Kiefer traf. Er viel like hollywood der Länge nach über den Tisch. Ich starrte noch eine ganze Weile auf dieses Häufchen Elend, dass sich auf der anderen Seite des Tisches nach unten fallen lies. Sich durch die Stühle kämpfte. Sein Parka war voll mit Getränken und Essensresten von den Tellern, die sich auf dem Tisch befanden. Michael rappelte sich hoch und versuchte unbeholfen, den Raum zu verlassen.

In diesem Augenblick erschien Zorka. Schon damals war unsere Devise: nie pünktlich erscheinen. Immer zu spät. Dann gucken alle, wenn Du eintrittst. Nichts hatte sich verändert. Michael hastete an ihr vorbei. Zorka drehte sich kurz nach ihm um und blickte dann wieder in unsere Richtung: „So wie ich es sehe, hat sich nichts geändert!“ Es war noch gut zwei Augenblicke absolut still. Ein Kellner hatte den Tumult bemerkt und stand reglos hinter Zorka. Dann entlud sich die Spannung in brüllendem Gelächter. Zorka hatte sich nicht verändert. Böse Zungen würden Sie mit ihrem Auftritt und Outfit einfach nur als Domina bezeichnen. Ihre damals braunen, kurzen Haare waren nun als Bobby geschnitten. Kirschrot mit schwarzen Strähnen. Langer Ledermantel bis zum Boden. Ihr Schuhwerk hätte jeden Motocross-Anhänger neidisch gemacht. Mit einer gekonnten Bewegung schwang Zorka den Ledermantel von ihren nackten Schultern, setzte sich auf den Tisch und schrie: „Kellner - Anmarsch!“ und schnippte mit den Fingern. Wir alle hatten noch einen wirklich netten Abend. Zorka und ich teilten uns später noch ein Zimmer in diesem verschlafenen Landgasthaus. Noch einmal und weit mehr als noch in unserer Jugend. Seither haben wir uns nie wieder gesehen. Eventuell auch besser so. Was für ein verrücktes Biest! Ich habe allerdings nach diesem Treffen auch nie wieder etwas von Michael gehört. Auch besser so!

Essenz

Du kannst keinem Menschen hinter die Stirn gucken. Erst wenn dieser Mensch mit dem Rücken an der Wand steht. Erst wenn ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Erst wenn er alles verliert, wirst Du erkennen, zu was dieser Mensch wirklich fähig ist. Dann siehst Du seine Stärke, Durchsetzungskraft, Loyalität oder auch Demut und Erkenntnis. Oder eben genau das Gegenteil. Bis dahin bleibt es immer - das ganze Leben - ein Fischen im Trüben. Eventuell erklärt das ein wenig meinen Hang zu gefallenen Persönlichkeiten, die sich trotz aller Widerstände immer noch an einem grandiosen Sonnenaufgang oder einfach nur am harmonischen Flug einer Familie von Schwalben in vollem Tempo begeistern können.

Es gibt nur dieses eine Leben. Dein Leben